Aggression beim Hund
»Quo vadis - Hundehaltung und Tierärzte im Spannungsfeld«, Berlin, 2001

Was ist Aggression?

Aggression ist ein normales, lebensnotwendiges Verhalten. Die Verhaltenswissenschaften gehen heute davon aus, dass jedes Verhalten sich im evolutiven Sinne zu einem einzigen Zweck, nämlich dem, möglichst viele der eigenen Gene in die nächste Generation weitergeben zu können, entwickelt hat. Das heißt, im Gegensatz zu der vor inzwischen 150 Jahren formulierten Darwin'schen These vom >Survival of the fittest< im Sinne einer individuellen Fitness, geht man heute davon aus, dass der die Evolution antreibende Prozess nicht die Fitness des Einzeltieres an sich, sondern die Gesamtfitness basierend auf der Weitergabe der Gene ist.

In diesem Zusammenhang muss man Aggressionsverhalten - auch beim Hund - sehen. Und immer wenn man über Aggression spricht, ganz gleich bei welchem Lebewesen, muss man auch über Angst sprechen. Angst ist eine angeborene innere und äußere Stressreaktion des Körpers auf Bedrohung. Es gibt eine vergleichbare Defination für Aggression: Aggression ist nämlich eine angeborene innere und äußere Stressreaktion des Körpers auf Bedrohung. Das heißt, Angst und Aggression sind letztendlich zwei Seiten ein und derselben Medaille, zwei mögliche Reaktionen auf ein und dieselbe Situation.

Verhalten in Bedrohungssituationen

Wenn wir also einen Hund haben, der irgendeine Bedrohung wahrnimmt, - und diese Bedrohung muss nicht im objektiven Sinne wirklich für den Hund gefährlich sein, es muss nur etwas sein, was vom Hund als bedrohlich empfunden wird - dann hat der Hund vier verschiedene Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen:

Flucht
Die erste Möglichkeit, und das ist die, die er wenn es möglich ist in der Regel auch ergreifen wird, ist durch Vergrößerung der Distanz Sicherheit zu schaffen. Er wird also fliehen. Nun gibt es Situationen, wo Flucht nicht möglich ist, oder als eine schlechte Alternative erscheint. Nämlich dann, wenn kein Fluchtweg vorhanden ist, wenn der Hund irgendwo in die Ecke getrieben wurde oder wenn er angebunden ist und nicht ausweichen kann.

Unter Umständen ist die Flucht auch gar nicht gut möglich: Eine Hündin mit drei Wochen alten Welpen wird sehr lange warten bis sie flieht, weil sie eine hochwertige Ressource zu verteidigen hat, nämlich ihre Welpen.

Wenn Fluchtverhalten also nicht möglich ist oder nicht sinnvoll erscheint, auch weil der Gegner schon zu nah ist und Flucht nicht funktionieren wird, dann gibt es weitere Möglichkeiten, wie der Hund reagieren kann:

Erstarren

Die zweite Möglichkeit ist das Erstarren. Erstarren ist etwas, was die meisten auch aus der eigenen Praxis kennen, wenn sie Kaninchen behandeln. Für einige Tierarten ist das Erstarren in vielen Situationen eine bevorzugte Handlungsweise, wenn Gefahr droht. Erstarren ist immer dann sinnvoll, wenn die Gefahr noch weit weg ist und man durch Nichtbewegen hoffen kann, nicht entdeckt zu werden.

Erstarren wird zusätzlich häufig dort praktiziert, wo die Bedrohung sehr nah ist, Flucht unmöglich ist und andere Handlungsweisen auch nicht sinnvoll erscheinen. Für den Hund, wie für die meisten Raubtiere, ist zwar die Option des Erstarrens nicht die erste Wahl im Verhalten, aber es gibt immer wieder Tiere, die so reagieren, beispielsweise bei bedrohlich empfundenen Situationen in der Tierarztpraxis.

Ersatzhandlung

Die dritte Möglichkeit, die das Tier wählen kann, wenn weder Flucht noch Erstarren sinnvoll erscheinen, ist eine Ersatzhandlung. Hunde neigen beispielsweise dazu, sich hinterm Ohr zu kratzen, Spielaufforderung zu zeigen oder irgendwelchen Blödsinn zu machen. Menschen kauen an den Fingernägeln, rauchen Zigaretten oder zerbrechen Bleistifte oder Ähnliches. Katzen und Kaninchen neigen dazu, sich ausgiebig zu putzen.

Ersatzhandlungen sind Verhaltensweisen, die aus einem ganz anderen Verhaltensbereich stammen und eigentlich in Moment des Geschehens keinen erkennbaren Zweck erfüllen. Sie haben aber durchaus einen Zweck:

Sie führen nämlich dazu, dass im fraglichen Moment Stress abgebaut wird. Das hilft nicht unbedingt die Situation zu lösen, aber man fühlt sich etwas besser.

Angriff

Wenn diese drei Möglichkeiten nicht funktioniert haben oder dem Tier in Abschätzung der Situation als nicht sinnvoll erscheinen, besteht die vierte Möglichkeit, der Angriff.

Angriff ist entweder eine weitere Möglichkeit, eine Gefahr auf Distanz zu bringen, indem man sie wegjagt, oder aber die Möglichkeit durch Verletzung oder gar Tötung des bedrohenden Gegners, die Gefahr ein für allemal zu beseitigen.

Auch für das Raubtier ist es in aller Regel die letzte Option, die ergriffen wird, denn jeder Kampf beinhaltet ein erhebliches Risiko, selbst dabei verletzt zu werden und damit, auch wenn man letztendlich der Sieger des Kampfes ist, so geschädigt zu werden, dass man auf Dauer nicht überleben wird. Das heißt, zu kämpfen ist eine Option, die immer als letztes gewählt werden wird.

Die Bereitschaft, in eine dieser vorgenannten Optionen zu gehen, kann durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden: der Gesundheitsstatus, der hormonelle Zustand oder Vorerfahrungen, die gemacht worden sind, können dazu führen, dass eine oder zwei dieser Optionen bevorzugt gezeigt werden gegenüber anderen. Auf diese Weise kann durchaus auch in Situationen, wo das für den außenstehenden Betrachter gar nicht die erste und sinnvollste Option wäre, ein Hund Angriffsverhalten zeigen, weil er aus Erfahrung gelernt hat, dass das der beste Weg ist, mit einer Bedrohungssituation umzugehen.

Motivationen für Aggressionsverhalten

Schmerz- bzw. schreckinduzierte Defensivreaktion

Sie ist eine angeborene, reflexartig ablaufende Abwehrreaktion, die jeder Tierarzt kennt, der einmal eine Injektion an die falsche Stelle gesetzt und der Hund sich umgedreht und zugebissen hat. Sie wird nicht vom Großhirn gesteuert, ist damit auch nur bedingt zu beeinflussen und kommt bei allen Tierarten und dem Menschen vor.

Hormonell bedingte Aggression bei der Hündin

Das ist zum einen die maternale Aggression, ein hormonbedingtes Verhalten während der ersten Lebenswochen der Welpen, oder bei einigen Hündinnen auch während der Scheinträchtigkeit, bzw. während der Scheinlaktation.

Eine zweite hormonell bedingte Aggression der Hündin ist die Konkurrenzaggression gegenüber anderen Hündinnen, vorausgesetzt sie wird nur während der Läufigkeit gezeigt. Nicht jede Aggression zwischen Hündinnen ist eine hormonell bedingte Konkurrenzaggression. Sie ist übrigens die einzige Form der Aggression, bei der die Kastration als verhaltenstherapeutische Maßnahme in Bezug auf das Aggressionsverhalten angezeigt wäre.

Spielerische Aggression

Sie ist im Welpenalter vollkommen normal. Wird das aggressive Spiel - z.B. durch Weiterspielen - vom Besitzer verstärkt, kann es zu einem antrainierten Problem werden.

>Intermale aggression< beim Rüden

Es handelt sich um eine testosteron-abhängige Konkurrenzaggression zwischen Rüden. Ein Großteil der Aggressionsfälle zwischen Rüden hat allerdings damit nichts zu tun; das ist der Grund, weswegen viele Rüden erfolglos im Hinblick auf ihr Aggressionsverhalten kastriert werden. Auch bei der Aggression zwischen Rüden spielt Erlerntes und vieles was vom Menschen bewusst oder unbewusst antrainiert wird, eine große Rolle. Es kann sich also bei aggressivem Verhalten um Sozialisationsdefekte mit daraus resultierendem Angstverhalten handeln. Dies sollte man abklären, bevor man sich zur Kastration entscheidet.

Territoriale Aggression

Territorialverhalten ist genetisch fixiert und tritt erst mit Erreichen der sozialen Reife auf. Ein sechs Monate alter Schäferhund, der auf dem Grundstück beständig bellt, ist also nichts anderes als ein >Angsthase< - er zeigt kein Territorialverhalten. Territoriale Aggression tritt erst dann auf, wenn der Hund sozial erwachsen wird.

Das Territorialverhalten kann nicht beeinflusst werden, wohl aber die damit verbundene Aggression; das territoriale Verhalten ist entweder vorhanden oder nicht und man muß damit umgehen.

Pathologische Aggressionen

Sie werden in gewissen Bereichen sehr überbewertet, in anderen werden sie eher unterdiagnostiziert.

Jede Form von Erkrankung oder Veränderungen des Gehirns können zu aggressivem Verhalten führen. Infektionen, wie die Borreliose und vor allem die Hypothyreose spielen hier eine große Rolle.

Bei einer ganzen Reihe von Rassen handelt es sich dabei um ein genetisches Problem auf einer ziemlich breiten Basis. Der Dobermann, der Golden Retriever, der Hovawart und viele andere Rassen sind davon betroffen.

Der Vorteil bei der Hypothyreose ist, dass sie sich meistens erfolgreich durch Substitution behandeln lässt und damit auch in der Regel die Aggression unter Kontrolle kommt. In letzter Zeit gibt es vermehrt Hinweise dafür, dass auch die Rassen American Staffordshire und Pitbull vermehrt Hypothyreose-Probleme haben.

Typisch für ein pathologisch aggressives Verhalten ist, dass es häufig ohne erkennbaren externen Auslöser auftritt, oder, wenn ein solcher Auslöser da ist, er in einer der Situation unangemessenen Intensität beantwortet wird. Es ist häufig mit sehr abrupten Stimmungsumschwüngen verbunden, woher auch der Name >Dr. Jackyll / Mr. Hyde-Syndrom< rührt. Das heißt: In einem Moment ist der Hund hochgradig aggressiv, dann wird der >Schalter< umgelegt und der Hund ist nett und freundlich, als wäre nichts gewesen.

Bei der Diagnostik muss man allerdings vorsichtig sein. Besitzer berichten sehr häufig, dass der Hund plötzlich und unerwartet und grundlos aggressiv geworden sei. Bei genauerem Befragen stellt sich dann aber meistens heraus, dass der Hund mit allem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln schon längere Zeit gewarnt hatte, aber niemand hat es wahrgenommen. Aber wenn man einigermaßen sicher abklären kann, dass wirklich keine vorhergehenden Anzeichen für die Aggression da waren, sollte man immer an eine pathologische Ursache denken.

Jagdverhalten

Es ist keine Aggression und wird auch von ganz anderen Gehirnarealen gesteuert. Es kann aber nichtsdestotrotz durchaus sehr dramatisch ausgehen, und zwar dann, wenn es gegenüber Artgenossen oder gegenüber Menschen gezeigt wird, insbesondere dann, wenn dabei keine erkennbare soziale Interaktion stattfindet.

Ein Hund, der Jogger hetzt, ist nicht allein dadurch gefährlich - was nicht heißt, dass er einfach Jogger hetzen sollte. Hetzverhalten ist für ein Raubtier vollkommen normal. Es ist allein eine Frage der Erziehung, zu verhindern, dass dabei unangemessene Objekte gehetzt werden. Was aber kritisch ist, ist, wenn das Jagdverhalten, das der Hund zeigt, gegenüber Artgenossen ohne irgendeine erkennbare soziale Mimik und Gestik stattfindet. Dann nämlich hat dieser Hund einen genetischen Defekt in Bezug auf soziale Interaktionen mit Sozialpartnern, auf die er geprägt wurde - und das ist eine echte Verhaltensstörung. Sie kommt allerdings sehr selten vor und kann bei jeder Rasse, auch bei Mischlingen auftreten. Es gibt eine nur geringfügig höhere Inzidenz bei einigen wenigen Rassen, die auf den Hundelisten stehen. Es ist also nicht so, dass diese Rassen durchgehend verstärkte Probleme in diesem Bereich zeigen.



Anschrift der Referentin:

Christiane Quandt, Aussiedlerhof Reiterhohl, 65817 Eppstein

Vortrag:

Vortragsveranstaltung der >Initiativgruppe praktizierender Tierärzte Berlin<

"Quo vadis - Hundehaltung und Tierärzte im Spannungsfeld", Berlin, Hilton Berlin, 2001

Vgl. "kleintier konkret", Enke-Verlag 2/2001, 31-33

 



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