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junge Welt Interview

22.07.2000
Statt über gesellschaftliche Aggression wird über Hunde geredet
Der Berliner Sozialphilosoph Horst Kurnitzky zur Gesellschaft in der globalisierten Welt. jW sprach mit ihm

* Horst Kurnitzky, 1938 in Berlin geboren, ist Philosoph und Schriftsteller. Bekannt wurde er durch seine Theorie über die Bedeutung des Geldes in der modernen Gesellschaft

F: Der Prozeß der Globalisierung wurde bis in die Mitte der 90er Jahre in der öffentlichen Diskussion weitgehend positiv belegt. In den vergangenen Jahren aber mehrt sich die Kritik an den sozialen Auswirkungen. Welche Gefahren sehen Sie im Rahmen der Globalisierung?

Das Problem ist zunächst einmal der Begriff. Von Globalisierung sprechen Leute, die damit eigentlich Konzentration und Uniformierung meinen. Globalisierung an sich ist uralt, es hat sie eigentlich schon immer gegeben. Was wären zum Beispiel die italienische Küche ohne die Tomaten aus Amerika, die Nudeln aus China oder den Kaffee? Die ganze europäische Kultur ist eigentlich ein Produkt von Globalisierung, das heißt von Austausch und Aneignung fremder Produktverarbeitung.

Die zweite Bedeutung des Wortes betrifft aber die Ausdehnung einer wirtschaftlichen Einheit, einer Firmengruppe, also die Ausdehnung konzentrierter ökonomischer Potenz über die ganze Welt. Die Gefahren, die darin bestehen, sind vielfältig. Zunächst mal bestehen sie in der Vereinheitlichung der Kultur. Man spricht ja schon von McDonald's-Kultur oder von der Coca-Cola-Welt, in der von Atlanta aus der Geschmack der Welt gesteuert wird. Oder die Vereinheitlichung der Kleidung. Es ist auffällig, daß dabei immer weniger Veränderungen stattfinden. Diese Veränderungen waren in der Vergangenheit immer lokal oder regional geprägt. Nun werden die Unterschiede weltweit immer kleiner. Man kann das besonders in den ehemals sozialistischen Ländern beobachten, in denen schlagartig ein Hebel umgestellt wurde und sich diese Strukturen ändern. Alles, was davor war, verschwand, verdampfte und wurde in eine Welteinheitskultur eingeschmolzen. Und das ist ein Problem der Globalisierung.

F: Dieser Prozeß läuft aber seit dem Zusammenbruch des Ostblocks aggressiver?

Eigentlich läuft er seit Ende der 70er Jahre. Das Problem ist, daß der sozialistische Block unter ökonomischem Gesichtspunkt nie ein Gegenüber war, sondern eher eine Insel, die sich im kapitalistischen Weltmeer bewegte. Alle sozialistischen Länder waren ja gezwungen, Handel mit kapitalistischen Ländern zu treiben. Von solchen ökonomischen Berechnungen aus sind sehr viele Länder schon Ende der 70er Jahre pleite gewesen.

F: Welche Folge aber hatte die Auflösung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) für die Intensität der Globalisierung?

Die Folge war, daß den großen Konzernen plötzlich riesige Märkte zufielen. In China leben fast zwei Milliarden Menschen, dann die ehemalige Sowjetunion und natürlich ganz Osteuropa inklusive Ostdeutschland. Das sind nicht nur riesige Märkte, weil dort viele Menschen leben, sondern auch, weil dort viele ausgebildete Menschen leben. Das unterscheidet Osteuropa von afrikanischen oder anderen Ländern der Dritten Welt. Die osteuropäischen Länder verfügen über enorme Ressourcen sogenannten Humankapitals, also sehr viele ausgebildete Menschen, die in allen möglichen Produktionsformen einsetzbar sind und dann automatisch Konsumenten werden.

F: Sie haben in Mexiko-Stadt ein Kolloquium zum Thema »Globalisierung der Gewalt« organisiert. Wo verbirgt sich die Gewalt in diesem Prozeß der Ausdehnung?

Die Gewalt verbirgt sich in der neoliberalen Doktrin selbst. Mit neoliberal meine ich dabei nicht die deutschen Neoliberalen wie Ludwig Erhard, sondern Ideologen wie Milton Friedman von der Chicagoer Schule, die jegliche Kontrolle, jegliche Rahmenabsteckung des Marktes ablehnen. Die Gesellschaft gibt die Kontrolle über den Markt nicht nur ab, das Verhältnis kehrt sich um. Dadurch wird ein sozialdarwinistisches Prinzip, also die absolute Konkurrenz nach dem Motto »Jeder gegen jeden«, auf alle Bereiche ausgedehnt.

Die Konsequenzen finden wir innerhalb der großwirtschaftlichen Unternehmen, wir finden sie zwischen ökonomischen Unternehmen und auch sozialen Organisationen wie Gewerkschaften. Und wir finden sie natürlich in der Gesellschaft selbst. Wenn Schulkinder mit dem Messer aufeinander losgehen, kann man sagen, daß sie den Neoliberalismus sozusagen auf ihrer Ebene realisieren. Diese dem Neoliberalismus immanente sozialdarwinistische Doktrin ist schlichtweg ein Aufruf zur Gewalt.

F: Ein Verhalten, das sich auch die NATO bei ihrem Krieg gegen Jugoslawien offen zu eigen gemacht hat. Inwieweit ist denn die politische Ebene davon betroffen?

Der Krieg gegen Jugoslawien ist natürlich vielschichtig. Ihm liegt eine Problematik zugrunde, die sich aus der Auflösung Jugoslawiens entwickelt hat. Die NATO hat den letzten Krieg gegen ein sozialistisches Land geführt und ist so ihrer Existenzberechtigung gerecht geworden.

Die Politik gegenüber den Konfliktparteien hatte aber noch eine andere weitreichendere Konsequenz, nämlich, daß die Mafiastrukturen der Kosovo-Albaner stark unterstützt wurden. Solche Kosovo-Albaner kontrollieren zum Beispiel in Prag den Drogenhandel. Das heißt, sie sind als Flüchtlinge nach Tschechien eingereist und haben sich dort zu großen Drogenbossen entwickelt. Sie verteilen das in Afghanistan und in der Türkei produzierte Heroin in Europa. Es entstehen also mittelalterliche und vorkapitalistische Wirtschaftsformen, die sich mit der Hilfe des modernsten Kriegsgerätes etablieren können. Das gleiche trifft auch auf Afghanistan zu, wo die Taliban-Milizen, die von den US-Amerikanern ausgerüstet wurden, jetzt die größten Heroinproduzenten der Welt sind: 58 Prozent der Weltheroinproduktion kommen aus Afghanistan und zwar gestützt auf die Waffen, die die USA den Taliban geliefert haben.

F: Die USA begründen Waffenlieferungen in diese Länder aber doch gerade mit der Drogenproduktion, die Gewalt erzeuge?

Das Drogenproblem ist in erster Linie ein Problem der Nachfrage. Wo Drogen gefragt sind, werden Drogen produziert. Es ist also ein nordamerikanisches Problem. Es ist dort nicht zu lösen, weil es keine Kräfte gibt, die auf eine Veränderung dieser Gesellschaft drängen. Problematisch ist auch die Vernetzung der kriminellen Strukturen und staatlicher Institutionen. Die Drogenmafias bestehen zum Teil aus Regierungsmitgliedern der lateinamerikanischen Länder und Militärs, die ehemals von den USA in der Panamakanalzone ausgebildet wurden. Und die US-Drogenbehörde DEA ist ebenfalls in die Geschäfte verwickelt. Die Bekämpfung des Drogenhandels dient offenbar nur als Vorwand für strategische Überlegungen und zum Erlangen ökonomischer Vorteile.

Das zeigt sich auch dadurch, daß die Verquickung bis tief in die ökonomischen Strukturen hineinreicht. Große Firmen wie zum Beispiel British American Tabaco, der Philipp Morris, Marlboro und andere angehören, unterhalten quasi Büros für Drogenhandel. Sie sind daran beteiligt, daß die in den USA erwirtschafteten Drogengelder nach Aruba auf die niederländischen Antillen geschafft werden. Dort werden sie in Zigaretten getauscht, die auf Schmugglerwegen nach Kolumbien und andere südamerikanische Staaten gebracht und dort verkauft werden. So schließt sich der Kreis.

F: Sind die imperialistischen Machtstrukturen als »Ordnungshüter« überhaupt noch geeignet?

Da sind wir wieder bei dem Gewaltproblem. Gewalt ist ja immer ein Problem von Balancierung. In jeder Gesellschaft besteht die Gewalt als zentrales Problem. Gewaltmanagement ist ein ganz wichtiges Element nicht nur des Gesellschaftsvertrages, sondern auch zwischen Nationen. Den Vereinten Nationen zum Beispiel liegt diese Idee der Gewaltbalancierung zugrunde. Wenn das nicht mehr gelingt, wenn sich ein Teil der Vereinten Nationen den Beschlüssen der Organisation entzieht oder die Völkergemeinschaft überhaupt ignoriert, dann gerät die Sache aus der Balance. Und dann wird Gewalt eigentlich erst provoziert.

F: Inwieweit spiegelt sich der Wegfall dieser zivilisatorischen Selbstkontrolle auch in den Gesellschaften wieder?

Was wir weltweit erleben, ist ein enormes Anwachsen von Sekten, religiösen Bewegungen und ethnischen Gruppierungen. Plötzlich tauchen ethnische Gruppen auf, von denen man vorher nie etwas gehört hat. Sie treten plötzlich auf die Bildfläche und kämpfen um die Freiheit ihres Tales oder Dorfes. Zum Teil sind diese Bestrebungen sicherlich historisch begründet. Allerdings werden sie auch benutzt. Es ist bekannt, daß große amerikanische Unternehmen mit ethnischen Gruppierungen zusammenarbeiten, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Das andere ist das Problem, daß der Neokorporativismus an Substanz verliert. In dem Moment, in dem die Gesellschaft als Subjekt innerhalb ihres eigenen Rahmens verschwindet, treten an die Stelle der Zivilgesellschaft wieder mittelalterliche Formen. Und das sind mafiöse Gruppen, Ethnien oder Gruppenkooperation.

F: Ihr Berliner Kollege Hajo Funke sieht einen Zusammenhang zwischen dieser Desintegration und der wachsenden Ausländerfeindlichkeit.

Das ist ganz sicher so. Es ist das alte Bild: Der Vater schlägt den Jungen, der Junge tritt den Hund. So wird in Zeiten der steigenden sozialen Gewalt versucht, die Gewalt weiterzugeben. Und das natürlich an der schwächeren Stelle. Die Xenophobie, also die Fremdenfeindlichkeit, ist ein typischer Ausdruck dessen. Sie führt zu einem steigenden Aggressionspotential. Man richtet die Aggression gegen jemanden, der anders ist, dadurch zugleich aber attraktiv wird, weil er eine Alternative zur eigenen Misere darstellt. Mit der eigenen Situation muß man sich nicht mehr beschäftigen.

Die aktuelle Debatte um Kampfhunde ist unheimlich interessant, weil sie eine ähnliche Ersatzdiskussion ist. Anstatt über gesellschaftliche Aggression zu reden, wird über Hunde geredet. Man kann die Probleme auf das Vieh beschränken. Vorher waren es die Baseballkeulen. Aber hat niemand davon gesprochen, daß man Baseballkeulen abschaffen müßte? Bei Hunden wird das plötzlich greifbar. Niemand spricht davon, daß die Hundehalter zumindest sehr problematische Figuren sind und daß man das in irgendeiner Weise regeln muß. Wir leben in einer immer aggressiveren Gesellschaft. Es gibt pausenlos irgendwelche Brandanschläge, oder Scheiben werden eingeworfen. Und dann wird bis in die letzten Ecken der Gesellschaft eine Diskussion um Hunde geführt, und alle Probleme werden darauf abgeladen.

F: Wie kann dieser Entwicklung etwas entgegengesetzt werden?

Die zentrale Frage scheint doch, wie können sich diejenigen organisieren, die die herrschenden Zustände nicht mehr aushalten? Es muß versucht werden, diesen Gruppen eine Stimme zu verschaffen. Bei der Aufklärung nehmen die Medien zwar eine wichtige Rolle ein, gleichzeitig ziehen sie sich aber auch immer mehr zurück. Ich denke, daß wir uns hier nicht mehr an Klassen oder Schichten orientieren können. Das ist ökonomisch gar nicht mehr festzumachen. Ein Maßstab könnte die Gruppe der Ausgeschlossenen sein. Von dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann stammt die These, daß sich unsere Gesellschaft der Inklusion in eine Gesellschaft der Exklusion verwandelt. Es werden immer mehr Leute und Gruppen ausgeschlossen. Aber was sollen die Ausgeschlossenen machen, die zunächst nicht in der Lage sind, sich zu organisieren? Im Grunde wäre es Aufgabe der Gewerkschaften, wenn sie überleben wollten, sich solcher Themen anzunehmen. Für Gewerkschaften, die bei uns auf den Mittelstand ausgerichtet sind, stellt das natürlich eine große Herausforderung dar. Der andere Gang der Dinge wäre, daß ihnen die Basis entzogen wird. Das heißt, die gesellschaftliche Entwicklung, die Konzentration des Kapitals führt automatisch zu ihrer Auflösung. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß die Gewerkschaften Arbeitslosenreferate einrichten, anstatt sich ständig an den alten Berufsbildern zu orientieren, die im Auflösen begriffen sind.

Das Gespräch führte Harald Neuber

 



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