* Horst Kurnitzky, 1938
in Berlin geboren, ist Philosoph und Schriftsteller.
Bekannt wurde er durch seine Theorie über die Bedeutung
des Geldes in der modernen Gesellschaft
F: Der Prozeß der
Globalisierung wurde bis in die Mitte der 90er Jahre in
der öffentlichen Diskussion weitgehend positiv belegt.
In den vergangenen Jahren aber mehrt sich die Kritik an
den sozialen Auswirkungen. Welche Gefahren sehen Sie im
Rahmen der Globalisierung?
Das Problem ist zunächst
einmal der Begriff. Von Globalisierung sprechen Leute,
die damit eigentlich Konzentration und Uniformierung
meinen. Globalisierung an sich ist uralt, es hat sie
eigentlich schon immer gegeben. Was wären zum Beispiel
die italienische Küche ohne die Tomaten aus Amerika,
die Nudeln aus China oder den Kaffee? Die ganze europäische
Kultur ist eigentlich ein Produkt von Globalisierung,
das heißt von Austausch und Aneignung fremder
Produktverarbeitung.
Die zweite Bedeutung des
Wortes betrifft aber die Ausdehnung einer
wirtschaftlichen Einheit, einer Firmengruppe, also die
Ausdehnung konzentrierter ökonomischer Potenz über die
ganze Welt. Die Gefahren, die darin bestehen, sind vielfältig.
Zunächst mal bestehen sie in der Vereinheitlichung der
Kultur. Man spricht ja schon von McDonald's-Kultur oder
von der Coca-Cola-Welt, in der von Atlanta aus der
Geschmack der Welt gesteuert wird. Oder die
Vereinheitlichung der Kleidung. Es ist auffällig, daß
dabei immer weniger Veränderungen stattfinden. Diese
Veränderungen waren in der Vergangenheit immer lokal
oder regional geprägt. Nun werden die Unterschiede
weltweit immer kleiner. Man kann das besonders in den
ehemals sozialistischen Ländern beobachten, in denen
schlagartig ein Hebel umgestellt wurde und sich diese
Strukturen ändern. Alles, was davor war, verschwand,
verdampfte und wurde in eine Welteinheitskultur
eingeschmolzen. Und das ist ein Problem der
Globalisierung.
F: Dieser Prozeß läuft
aber seit dem Zusammenbruch des Ostblocks aggressiver?
Eigentlich läuft er seit
Ende der 70er Jahre. Das Problem ist, daß der
sozialistische Block unter ökonomischem Gesichtspunkt
nie ein Gegenüber war, sondern eher eine Insel, die
sich im kapitalistischen Weltmeer bewegte. Alle
sozialistischen Länder waren ja gezwungen, Handel mit
kapitalistischen Ländern zu treiben. Von solchen ökonomischen
Berechnungen aus sind sehr viele Länder schon Ende der
70er Jahre pleite gewesen.
F: Welche Folge aber
hatte die Auflösung des Rates für Gegenseitige
Wirtschaftshilfe (RGW) für die Intensität der
Globalisierung?
Die Folge war, daß den
großen Konzernen plötzlich riesige Märkte zufielen.
In China leben fast zwei Milliarden Menschen, dann die
ehemalige Sowjetunion und natürlich ganz Osteuropa
inklusive Ostdeutschland. Das sind nicht nur riesige Märkte,
weil dort viele Menschen leben, sondern auch, weil dort
viele ausgebildete Menschen leben. Das unterscheidet
Osteuropa von afrikanischen oder anderen Ländern der
Dritten Welt. Die osteuropäischen Länder verfügen über
enorme Ressourcen sogenannten Humankapitals, also sehr
viele ausgebildete Menschen, die in allen möglichen
Produktionsformen einsetzbar sind und dann automatisch
Konsumenten werden.
F: Sie haben in
Mexiko-Stadt ein Kolloquium zum Thema »Globalisierung
der Gewalt« organisiert. Wo verbirgt sich die Gewalt in
diesem Prozeß der Ausdehnung?
Die Gewalt verbirgt sich
in der neoliberalen Doktrin selbst. Mit neoliberal meine
ich dabei nicht die deutschen Neoliberalen wie Ludwig
Erhard, sondern Ideologen wie Milton Friedman von der
Chicagoer Schule, die jegliche Kontrolle, jegliche
Rahmenabsteckung des Marktes ablehnen. Die Gesellschaft
gibt die Kontrolle über den Markt nicht nur ab, das
Verhältnis kehrt sich um. Dadurch wird ein
sozialdarwinistisches Prinzip, also die absolute
Konkurrenz nach dem Motto »Jeder gegen jeden«, auf
alle Bereiche ausgedehnt.
Die Konsequenzen finden
wir innerhalb der großwirtschaftlichen Unternehmen, wir
finden sie zwischen ökonomischen Unternehmen und auch
sozialen Organisationen wie Gewerkschaften. Und wir
finden sie natürlich in der Gesellschaft selbst. Wenn
Schulkinder mit dem Messer aufeinander losgehen, kann
man sagen, daß sie den Neoliberalismus sozusagen auf
ihrer Ebene realisieren. Diese dem Neoliberalismus
immanente sozialdarwinistische Doktrin ist schlichtweg
ein Aufruf zur Gewalt.
F: Ein Verhalten, das
sich auch die NATO bei ihrem Krieg gegen Jugoslawien
offen zu eigen gemacht hat. Inwieweit ist denn die
politische Ebene davon betroffen?
Der Krieg gegen
Jugoslawien ist natürlich vielschichtig. Ihm liegt eine
Problematik zugrunde, die sich aus der Auflösung
Jugoslawiens entwickelt hat. Die NATO hat den letzten
Krieg gegen ein sozialistisches Land geführt und ist so
ihrer Existenzberechtigung gerecht geworden.
Die Politik gegenüber
den Konfliktparteien hatte aber noch eine andere
weitreichendere Konsequenz, nämlich, daß die
Mafiastrukturen der Kosovo-Albaner stark unterstützt
wurden. Solche Kosovo-Albaner kontrollieren zum Beispiel
in Prag den Drogenhandel. Das heißt, sie sind als Flüchtlinge
nach Tschechien eingereist und haben sich dort zu großen
Drogenbossen entwickelt. Sie verteilen das in
Afghanistan und in der Türkei produzierte Heroin in
Europa. Es entstehen also mittelalterliche und
vorkapitalistische Wirtschaftsformen, die sich mit der
Hilfe des modernsten Kriegsgerätes etablieren können.
Das gleiche trifft auch auf Afghanistan zu, wo die
Taliban-Milizen, die von den US-Amerikanern ausgerüstet
wurden, jetzt die größten Heroinproduzenten der Welt
sind: 58 Prozent der Weltheroinproduktion kommen aus
Afghanistan und zwar gestützt auf die Waffen, die die
USA den Taliban geliefert haben.
F: Die USA begründen
Waffenlieferungen in diese Länder aber doch gerade mit
der Drogenproduktion, die Gewalt erzeuge?
Das Drogenproblem ist in
erster Linie ein Problem der Nachfrage. Wo Drogen
gefragt sind, werden Drogen produziert. Es ist also ein
nordamerikanisches Problem. Es ist dort nicht zu lösen,
weil es keine Kräfte gibt, die auf eine Veränderung
dieser Gesellschaft drängen. Problematisch ist auch die
Vernetzung der kriminellen Strukturen und staatlicher
Institutionen. Die Drogenmafias bestehen zum Teil aus
Regierungsmitgliedern der lateinamerikanischen Länder
und Militärs, die ehemals von den USA in der
Panamakanalzone ausgebildet wurden. Und die US-Drogenbehörde
DEA ist ebenfalls in die Geschäfte verwickelt. Die Bekämpfung
des Drogenhandels dient offenbar nur als Vorwand für
strategische Überlegungen und zum Erlangen ökonomischer
Vorteile.
Das zeigt sich auch
dadurch, daß die Verquickung bis tief in die ökonomischen
Strukturen hineinreicht. Große Firmen wie zum Beispiel
British American Tabaco, der Philipp Morris, Marlboro
und andere angehören, unterhalten quasi Büros für
Drogenhandel. Sie sind daran beteiligt, daß die in den
USA erwirtschafteten Drogengelder nach Aruba auf die
niederländischen Antillen geschafft werden. Dort werden
sie in Zigaretten getauscht, die auf Schmugglerwegen
nach Kolumbien und andere südamerikanische Staaten
gebracht und dort verkauft werden. So schließt sich der
Kreis.
F: Sind die
imperialistischen Machtstrukturen als »Ordnungshüter«
überhaupt noch geeignet?
Da sind wir wieder bei
dem Gewaltproblem. Gewalt ist ja immer ein Problem von
Balancierung. In jeder Gesellschaft besteht die Gewalt
als zentrales Problem. Gewaltmanagement ist ein ganz
wichtiges Element nicht nur des Gesellschaftsvertrages,
sondern auch zwischen Nationen. Den Vereinten Nationen
zum Beispiel liegt diese Idee der Gewaltbalancierung
zugrunde. Wenn das nicht mehr gelingt, wenn sich ein
Teil der Vereinten Nationen den Beschlüssen der
Organisation entzieht oder die Völkergemeinschaft überhaupt
ignoriert, dann gerät die Sache aus der Balance. Und
dann wird Gewalt eigentlich erst provoziert.
F: Inwieweit spiegelt
sich der Wegfall dieser zivilisatorischen
Selbstkontrolle auch in den Gesellschaften wieder?
Was wir weltweit erleben,
ist ein enormes Anwachsen von Sekten, religiösen
Bewegungen und ethnischen Gruppierungen. Plötzlich
tauchen ethnische Gruppen auf, von denen man vorher nie
etwas gehört hat. Sie treten plötzlich auf die Bildfläche
und kämpfen um die Freiheit ihres Tales oder Dorfes.
Zum Teil sind diese Bestrebungen sicherlich historisch
begründet. Allerdings werden sie auch benutzt. Es ist
bekannt, daß große amerikanische Unternehmen mit
ethnischen Gruppierungen zusammenarbeiten, um ihre
eigenen Interessen durchzusetzen. Das andere ist das
Problem, daß der Neokorporativismus an Substanz
verliert. In dem Moment, in dem die Gesellschaft als
Subjekt innerhalb ihres eigenen Rahmens verschwindet,
treten an die Stelle der Zivilgesellschaft wieder
mittelalterliche Formen. Und das sind mafiöse Gruppen,
Ethnien oder Gruppenkooperation.
F: Ihr
Berliner Kollege Hajo Funke sieht einen Zusammenhang
zwischen dieser Desintegration und der wachsenden Ausländerfeindlichkeit.
Das ist
ganz sicher so. Es ist das alte Bild: Der Vater schlägt
den Jungen, der Junge tritt den Hund. So wird in Zeiten
der steigenden sozialen Gewalt versucht, die Gewalt
weiterzugeben. Und das natürlich an der schwächeren
Stelle. Die Xenophobie, also die Fremdenfeindlichkeit,
ist ein typischer Ausdruck dessen. Sie führt zu einem
steigenden Aggressionspotential. Man richtet die
Aggression gegen jemanden, der anders ist, dadurch
zugleich aber attraktiv wird, weil er eine Alternative
zur eigenen Misere darstellt. Mit der eigenen Situation
muß man sich nicht mehr beschäftigen.
Die
aktuelle Debatte um Kampfhunde ist unheimlich
interessant, weil sie eine ähnliche Ersatzdiskussion
ist. Anstatt über gesellschaftliche Aggression zu
reden, wird über Hunde geredet. Man kann die Probleme
auf das Vieh beschränken. Vorher waren es die
Baseballkeulen. Aber hat niemand davon gesprochen, daß
man Baseballkeulen abschaffen müßte? Bei Hunden wird
das plötzlich greifbar. Niemand spricht davon, daß die
Hundehalter zumindest sehr problematische Figuren sind
und daß man das in irgendeiner Weise regeln muß. Wir
leben in einer immer aggressiveren Gesellschaft. Es gibt
pausenlos irgendwelche Brandanschläge, oder Scheiben
werden eingeworfen. Und dann wird bis in die letzten
Ecken der Gesellschaft eine Diskussion um Hunde geführt,
und alle Probleme werden darauf abgeladen.
F: Wie kann dieser
Entwicklung etwas entgegengesetzt werden?
Die zentrale Frage
scheint doch, wie können sich diejenigen organisieren,
die die herrschenden Zustände nicht mehr aushalten? Es
muß versucht werden, diesen Gruppen eine Stimme zu
verschaffen. Bei der Aufklärung nehmen die Medien zwar
eine wichtige Rolle ein, gleichzeitig ziehen sie sich
aber auch immer mehr zurück. Ich denke, daß wir uns
hier nicht mehr an Klassen oder Schichten orientieren können.
Das ist ökonomisch gar nicht mehr festzumachen. Ein Maßstab
könnte die Gruppe der Ausgeschlossenen sein. Von dem
Systemtheoretiker Niklas Luhmann stammt die These, daß
sich unsere Gesellschaft der Inklusion in eine
Gesellschaft der Exklusion verwandelt. Es werden immer
mehr Leute und Gruppen ausgeschlossen. Aber was sollen
die Ausgeschlossenen machen, die zunächst nicht in der
Lage sind, sich zu organisieren? Im Grunde wäre es
Aufgabe der Gewerkschaften, wenn sie überleben wollten,
sich solcher Themen anzunehmen. Für Gewerkschaften, die
bei uns auf den Mittelstand ausgerichtet sind, stellt
das natürlich eine große Herausforderung dar. Der
andere Gang der Dinge wäre, daß ihnen die Basis
entzogen wird. Das heißt, die gesellschaftliche
Entwicklung, die Konzentration des Kapitals führt
automatisch zu ihrer Auflösung. Ich könnte mir
durchaus vorstellen, daß die Gewerkschaften
Arbeitslosenreferate einrichten, anstatt sich ständig
an den alten Berufsbildern zu orientieren, die im Auflösen
begriffen sind.
Das Gespräch führte
Harald Neuber
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