"Sie kommen und beissen, beissen"


Seit jenem Montag im Juni, als die Kampfhunde Gipsy und Zeus in Hamburg-Wilhelmsburg den sechsjährigen Volkan auf einem Schulhof zerfleischten, wirkt der Schock bei den Menschen in dem Problem-Viertel nach. Anfang Dezember wird Hundehalter Ibrahim K. wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor Gericht stehen. Viele Wilhelmsburger sagen, diese Tragödie sei programmiert gewesen

An jenem Morgen spielten die Hunde vor dem heruntergekommenen Haus an der Buddestraße 26. Kinder, auf dem Weg zur Schule, hielten an und streichelten sie wie in den Tagen, Wochen zuvor und gingen weiter in den Unterricht. Dreieinhalb Stunden später sprangen die American Staffordshires Gipsy und Zeus über eine 1,40 Meter hohe Mauer vom Hinterhof aufs Schulgelände der Buddeschule und zerfleischten den Vorschüler Volkan, sechs Jahre alt. Heute umfängt ein hoher Metallzaun mit nach außen abfallenden Zacken die Schule, und aus ihrem Hochsicherheitstrakt schnauzt die Direktorin Inge Schmitz: "Wir sagen nichts mehr, es ist alles gesagt, wir wollen einfach nicht mehr." Psychologen sind da drin und kümmern sich um Kinder wie Ülkü, elf, die nächtens aus dem Schlaf hochschreckt: "Die Hunde kommen. Sie beißen, beißen, beißen und hören nicht auf."

An jenem Morgen begann Claus Strobel, Bürgernaher Beamter auf dem Polizeirevier 44, seinen Dienst gegen 7.30 Uhr. Es hätte ein normaler Tag werden sollen für den freundlichen Mann mit dem kleinen silbernen Motorrad im linken Ohrläppchen. Das Revier abgehen, vielleicht hinüber zur Thielenstraße. Oder zum Kindergarten. Oder zum türkischen Kulturverein Pamukkale auf einen süßen Tee.

Wenige Stunden später führte Strobel eine Lehrerin am Arm zu einer blutverschmierten Masse auf dem Rasengeviert der Buddeschule und bat sie, dieses Bündel Haut und Knochen als den Schüler Volkan zu identifizieren. Strobel hat einiges erlebt. "Aber so ein Bild habe ich in 29 Jahren nicht gesehen. Und das werde ich auch in 30 Jahren nicht vergessen." Wachtmeister Strobel hat feuchte Augen, wenn er davon spricht.

An jenem Morgen saß Ekrem Degirmenci im türkischen Kulturverein Pamukkale in der Thielenstraße, trank Tee und schwatzte mit den anderen Männern, und im Fernseher über der Eingangstür lief ein türkisches Musikprogramm. Später kam Kali dazu, regelmäßiger Besucher des Lokals und gern gesehener Gast. Sie setzten sich zusammen, tranken Tee und spielten Karten, als die Polizeiwagen die Straße hinunterpreschten mit Tatütata und Blaulicht. Ekrem Degirmenci sagte: "Kali, schau mal nach, was da los ist." Und Kali trat auf die Straße und kurz drauf wieder in das Lokal und sprach: "Da ist ein Kind und ein Hund. Und der Hund beißt das Kind ab." Die beiden Männer stürmten los, die Straße hinunter bis zur Buddeschule, 200 Meter. Sie suchten ihre Kinder. Auf dem Rasen lag ein Kind, entstellt bis zur Unkenntlichkeit, weil alles vom Gesicht fehlte und nur blanker Schädelknochen blitzte, und daneben, etwas abseits, lagen zwei tote Hunde, erschossen. Die Männer wandten sich ab und suchten weiter. Aber sie mussten nicht lange suchen. Ein Lehrer ging auf Kali zu und sagte: "Es ist Ihr Sohn."

Fortan sah er aus wie gefroren, sagt sein Freund Ekrem. Und er sprach nicht mehr. Kali spricht bis heute nicht über jenen Tag, die Eltern erwähnen nicht mal mehr den Namen Volkan. Der Schmerz sticht zu stark in der Brust, und sie haben noch einen Sohn, Gökhan, neun Jahre alt, der nicht aufwachsen soll mit der ewigen Erinnerung an den grausamen Tod seines kleinen Bruders Volkan, gestorben am 26. Juni 2000 gegen 12 Uhr auf dem Gelände der Buddeschule in Hamburg-Wilhelmsburg an "Verblutung in Kombination mit Luftembolie". Gewaschen, nach muslimischem Ritual, gewickelt in Tücher und verborgen vor den Augen seiner Eltern. Weil nicht mehr erkennbar als Kind, als ihr Kind. Beerdigt schließlich am 29. Juni im Dorf Yayla Konak, Ostanatolien. Aber die Trauer und die Wut und die Erinnerung und die Fragen kann man nicht beerdigen.

Also sitzt Monate nach jenem Tag Volkans Onkel Aliekber Akin in seinem Wohnzimmer in der Wehrmannstraße 4, nicht mal hundert Meter von der Schule entfernt, und verlangt nach einer gerechten Strafe für Ibrahim K., den Halter des Zeus. Herr Akin hat die Hände gefaltet, vor ihm auf dem Tisch steht eine Schale mit Früchten, und er sagt über seinen Landsmann: "So einer treibt sich hier rum. Andere werden abgeschoben, und er läuft mit einer Kampfmaschine rum." Diese verdammte Sinnlosigkeit. Herr Akin knetet die Hände, und die Knöchel treten weiß hervor. "Wie hat er sich überhaupt einen Hund halten können? Das entspricht doch nicht seinem Glauben." Der islamische Glaube verbietet Hunde als Haustiere. Hunde sind nicht sauber. Nicht sauberer als Schweine und Ratten. Herr Akin fragt: "Wo war seine Familie?"

Also sagt Cemil K., Bruder des Ibrahim K.: "Wir waren für ihn da, und wir sind für ihn da." Aber Cemil K. sagt auch: "Hunde gehören in die Hundehütte." Und dass es darüber Streit gegeben habe in der Familie, aber jeder mache Fehler. Dieser Fehler werde seinen Bruder bis zum Ende seiner Tage verfolgen. Nicht nur ihn; die ganze Familie K. Wie Täter und Aussätzige würden sie behandelt im Viertel. Reporter hätten der Schwester Geld geboten, viel Geld, damit sie erzähle, was für einer Ibrahim sei. Am besten die Geschichte einer Bestie. "Aber er ist doch ein Teil unserer Gesellschaft!" Nichts wird für Familie K. mehr so sein wie vorher. "Den Schmerz kann niemand lindern", sagt Cemil, der nicht mehr schlafen kann. Scham und Schande. "Unser ganzes Mitleid gilt der Familie von Volkan." Dann legt er den Hörer auf. Und nimmt ihn nicht mehr ab.

Ibrahim K., geboren am 25. September 1976 in Hamburg, hatte viele falsche Freunde und hat jetzt noch mehr Feinde, und wenn er rauskommt aus dem Knast, wird er sich wohl kaum noch blicken lassen können im alten Bahnhofsviertel von Wilhelmsburg. Weil das höchst ungesund wäre, und das sagen sogar seine Freunde, die auch sagen: "Man wird jetzt an ihm ein Exempel statuieren, weil das die Öffentlichkeit verlangt." Und alles würde ganz anders aussehen, wenn Ibrahims Familie nicht aus Ordu am Schwarzen Meer, sondern aus Ochtrup in Westfalen stammte. Dann wäre vermutlich offener Kampf zwischen der deutschen Minderheit und der türkischen Mehrheit im Bahnhofsviertel und das weitgehend friedliche Nebeneinander aufgehoben. Es wäre noch schlimmer.

In Wilhelmsburg sagen die Menschen: "Es musste ja so kommen." Sie sagen das, als hätten sie nur darauf gewartet. Sie benutzen diesen Satz mal als Drohung und mal als Entschuldigung. Es musste so kommen - das ist Wut und Resignation in einem. Es musste so kommen, dass bei den vorigen Kommunalwahlen 14,6 Prozent der Wilhelmsburger DVU und Republikaner wählten. Aus Protest, wie sie sagen, nicht aus Überzeugung, Gott bewahre. Damit die Ignoranten drüben auf der anderen Seite der Elbe im feinen Hamburg endlich etwas merken und endlich etwas tun für diese vergessene Insel von 3500 Hektar mitten im Fluss; diesen Stadtteil von 46000 Menschen. Der kein Kino hat und keine Disco, aber mehr als 6000 Sozialhilfeempfänger und 34 Prozent Ausländeranteil. Überspült von der großen Flut 1962, in der 207 Wilhelmsburger ersoffen. Hin und her geschoben hernach in den Planspielen des Senats. Brachfläche? Agrarfläche, gar Gemüsegarten der Millionenstadt? Oder doch Raffinerien und Werftbau und Recycling? Schließlich von allem ein bisschen, nichts Ganzes. Aber auch nichts Halbes. Wunderschön und idyllisch und grün wie kein anderer Stadtteil Hamburgs - einerseits. Trostlos, verfallen und arm wie kein anderer Stadtteil Hamburgs - andererseits.

Benutzt von der großen Stadt jenseits der Elbe vor allem als Entsorgungspark für Problemmüll, der zu einem grasbepflanzten Berg mit Windkraftrad drauf wuchs. Und für Menschen mit Problemen, die hier billigen Wohnraum fanden, aber keine Arbeit und keine Perspektive. Wilhelmsburg liegt sieben S-Bahn-Minuten vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt. Sieben Minuten können eine Ewigkeit sein. "Es musste so kommen", sagen die Menschen.

Musste es so kommen?

Alle haben plötzlich geahnt, befürchtet, erwartet und gewusst, dass sich eines Tages ein Unglück ereignen würde. Müsste. Zwangsläufig. Die Kindergärtnerin Kristina Just etwa, "fünfzigmal hab ich bei der Wache angerufen oder bin hingefahren", und hat sich beklagt über Ibrahim, der Zeus prügelte, bis das Blut von den Lefzen tropfte, und der sie warnte: "Sei still, sonst passiert dir noch mal was." Die selber einen Kampfhund besaß, den Staffordshire Biene, "ganz süß", der an Krebs krepierte 1997 und dessen Geburtstag am 9. November sie noch heute begeht. Die Hunde liebt fast wie die eigene Tochter und deshalb Ibrahim besonders hasst. Die sich bedankt bei ihren tollen türkischen Nachbarn, die abends klingeln und süßen Kuchen vorbeibringen, und die dem Rechtspopulisten Ronald Barnabas Schill und dessen "Partei Rechtsstaatliche Offensive" trotzdem ihre Stimme geben wird, "damit das hier aufhört mit dem ständigen Zustopfen mit Ausländern". Aber nichts gegen ihre Nachbarn, reizende Leute. Nichts gegen Ausländer grundsätzlich, "mein Freund ist Grieche", aber: "Es musste so kommen", sagt sie, "Wilhelmsburg war wie eine Zeitbombe. Ach, ist es noch."

Selbst der Polizist Strobel, der sonst gern ein bis zwei Augen zudrückt, hatte ein mulmiges Gefühl bei den Jungs, die mit ihren Hunden an der S-Bahn-Station oder am verwinkelten Betonklotz von Einkaufszentrum herumlungerten und Passanten verschreckten und die ihm sagten: "Vergiss deine Gesetze, die gelten hier nicht." Manchmal hat Strobel all seinen Mut zusammengenommen und die Pitbulls und Staffordshires und Mastinos gestreichelt oder denen sogar ein Frolic ins Maul geschoben und danach seine Finger gezählt. Das kam bei den Machos gar nicht gut an, weil ihre Statussymbole gefährlich und nicht wie drömelige Hush-Puppies sein sollten, die sogar ein Bulle ungestraft tätscheln durfte. Und was hätte er, Wachtmeister Strobel, schon machen können, nicht wahr, außer: "Immer wieder drauf hinweisen auf Leine und Maulkorb und verwarnen", und wer hätte das ahnen können, so was? So was doch nicht.

Es musste nicht so kommen. Nicht so weit. Im alten Bahnhofsviertel von Wilhelmsburg kursieren viele Gerüchte über Ibrahim K. Das Gerücht ist wie ein Klingelbeutel, jeder gibt etwas hinzu. Denn jetzt ist die Stunde der Trittbrettfahrer und Wichtigtuer, die zum Beispiel erzählen, Ibrahim K. habe seinen Hund mit Heroin gemästet. Wahlweise mit Anabolika. Wahlweise mit Kokain. Er habe den ganzen Tag gekifft mit der Freundin, und darüber seien auch die Hunde stoned geworden und ein bisschen verrückt. Und und und.

Man kann wählen zwischen dem guten, unverstandenen Ibrahim und dem *****loch K. Die Geschichte vom guten Ibrahim geht so: Der gute Ibrahim kam fast täglich hinüber zu seinem Freund Birol in den Schwentnerring, und dort daddelten die beiden stundenlang am Computer, während Zeus mit Birols zweijährigem Töchterchen spielte. Braves Tier, sagt Birol. Hat auch nie gekämpft. Hätte sonst doch Narben im Fell. Aber da waren keine bei der Obduktion, nur Schusswunden. Also! Und Ibrahim erst, so kinderlieb, vernarrt regelrecht in Kinder. "Wissen Sie", sagt Birol, "er selbst konnte ja keine Kinder kriegen, und gerade deshalb hat er sie geliebt." Ungefähr so wie die Hunde. Nie hätte der einem anderen was zuleide tun können. Nie. Und alles, was erzählt wird, sei nur verdammter Scheiß. Denn wenn einer ihn kennt, dann er, Birol. "Ibrahim würde jetzt sein eigenes Leben geben, um das ungeschehen zu machen." Im Knast, sagt Birol, habe Ibrahim die große Reue gepackt. "Er spricht von der Ohrfeige Gottes." Dann zückt Birol ein Schreiben mit der Besuchserlaubnis für Ibrahim K. und sagt: "Ich bin sein Freund, da sehen Sie es."

Die Geschichte vom *****loch K. geht so: Es ist die eines jungen Türken, der nach abgebrochener Lehre als Maler und Lackierer Geschäfte machte. Geschäfte heißt: Er dealte. Vorzugsweise in einem heruntergekommenen Laden namens "1001 Nacht" in Alt-Wilhelmsburg, jenseits der Bahngleise, die die Elbinsel durchschneiden. Er ist da oft zusammen mit Ahmed*, der seinen richtigen Namen nicht nennen mag, aus Angst. Weil ihn zu viele kennen im Viertel, und weil er nach einer Haftstrafe gerade erst wieder draußen ist auf Bewährung, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Der sich nun ein neues Leben aufbaut. Mit Job am Fließband, Frau, Wohnung und Hund.

Ibrahim und Ahmed sind Freunde, damals. Es ist die Zeit, da Ibrahim ein beachtliches Strafregister anhäuft, das die "Bild"-Zeitung nach der Tragödie zu der Schlagzeile "Warum saß dieser Schwerverbrecher noch nie im Gefängnis?" aufbläst - und dabei verschweigt, dass es sich vornehmlich um Jugenddelikte handelt. Diebstahl, Raub, Körperverletzung, später dann illegaler Besitz einer halbautomatischen Waffe, acht Monate auf Bewährung. Man muss wissen: Es herrscht Krieg in Alt-Wilhelmsburg, Bandenkrieg. Dealer gegen Dealer. Ibrahim K., das wird ihm dringend geraten, hat dort nichts zu suchen. Er soll das Revier räumen und das "1001 Nacht" anderen überlassen. Schüsse fallen, und irgendwann wirft es ihn und seine Kollegen wieder zurück auf die andere Seite der Gleise ins Bahnhofsviertel. Sie haben verloren.

Ibrahim ist zu diesem Zeitpunkt längst in Hunde vernarrt. Nicht irgendwelche Hunde, es müssen Hunde sein, die Kraft und Mut und Stärke zeigen, gelegentlich mehr als der Besitzer. Er kauft den Welpen Zeus bei einem privaten Züchter in einer Wohnung in Alt-Wilhelmsburg, und er bekommt Stress daheim mit dem Vater, der keine Hunde duldet, weil Hunde nicht in Häuser gehören, sondern in Hütten. Wenn überhaupt. Ibrahim zieht aus, freiwillig, wohnt mal hier, mal da, schlüpft unter bei Freunden, jobbt gelegentlich auf dem Bau, macht kleinere Geschäfte. Seit Ende Dezember 1996 ist er nicht mehr offiziell gemeldet. Schnorrt sich durchs Leben, kriegt ein bisschen Geld von der Familie. Und lernt Silja W. kennen. Sie ist jung, hübsch, deutsch und besitzt einen Hund mit Namen Gipsy. Die beiden werden ein Paar. Sie teilen ihre Liebe, die Liebe für Kampfhunde und sonst nicht viel. Am Ende vegetieren sie in einem Dreckloch in der Buddestraße 26.

Aus Zeus, dem Welpen, wird im Laufe der Zeit Zeus, die Waffe. Ibrahim trainiert ihn auf Spielplätzen hinter Schulen und Kindergärten. Er lässt ihn und Gipsy an Bäume springen, 1,80 Meter hoch, und Hartgummisitze von Schaukeln zerbeißen und auf runden Scheiben von Spielplatzkarussells rennen, rennen, rennen. Er hängt Zeus eine fast fünf Kilo schwere Eisenkette um den Hals und fährt mit dem Fahrrad neben ihm den Deich entlang. Zeus muss in der Elbe schwimmen gegen die Strömung. Er muss in Stöcke beißen und sich herumwirbeln lassen, um das Gebiss zu stählen.

Und Zeus kämpft.

Zweimal ist Ahmed dabei. Alles läuft ganz konspirativ - man trifft sich hinter dem "Haus der Jugend" oder an einer alten Lagerhalle in Hamburg-Veddel. Da sind nicht viele Zuschauer, zehn, 15 vielleicht, weil Zuschauer auch potenzielle Zeugen sind. Und es geht um Geld.

Zeus gewinnt, wird berühmt in der Szene. Und aktennotorisch wie sein Herrchen. Das Ordnungsamt verhängt Maulkorb- und Leinenzwang für Zeus. Aber Ibrahim scheißt darauf, und sein Hund und der seiner Freundin beißen immer wieder zu. Andere Hunde und gelegentlich, wie im April 1998, auch Besitzer der anderen Hunde. Ibrahim K. steht machtlos daneben. Zeus ist längst das Herrchen.

Zwei Monate vor der Tragödie an der Buddestraße häufen sich die Angriffe, drei in acht Tagen. Ahmed, sein früherer Freund, weiß, warum. Den letzten Kampf, sagt er, hat Zeus verloren, und Ibrahim wollte ihn danach langsam zurückfahren und halten wie ein normales Tier, "wie ein Schoßhündchen". Aber dann kam dieses Angebot von der Reeperbahn für den letzten großen Kampf, für das richtig große Geld. Und wenn die Loddel rufen, geht es um die Ehre von Wilhelmsburg und Summen wie beim Pferderennen. Ibrahim, sagt Ahmed, hätte reich werden können mit diesem letzten Kampf. "Deshalb hat er Zeus wieder scharf gemacht." Streicheln und schlagen, Zuckerbrot und Peitsche, "so was", sagt Ahmed, verkraftet kein Hund. Erst recht kein Kampfhund. Erst recht kein Zeus. Ahmed muss das wissen. Ahmed besitzt selbst einen Kampfhund.

Zeus war schon tot wie der kleine Volkan, als der Kampf ausgetragen werden sollte. Und Ibrahim K. hat jetzt alles verloren. Er sitzt im Knast, angeklagt wegen Körperverletzung mit Todesfolge, und wartet auf den Prozess, reuig, getroffen von der Ohrfeige Gottes. Aber Ibrahim ist noch immer allgegenwärtig in Wilhelmsburg. Es gibt viele Ibrahims im alten Bahnhofsviertel und auch auf der anderen Seite der Gleise. Größere Ibrahims, die sich keine Kampfhunde halten müssen als Statussymbole. Sondern ihre sauteuren Mercedes-Limousinen durch die engen Straßen kariolen und den ganzen Tag am Handy hängen. Wer fragt, wie man sich mit Anfang 20 solch einen Schlitten für 200000 Mark leisten kann, bekommt ein "Die Familie hat zusammengelegt" und ein Lächeln zur Antwort.

Und dann sind da die kleinen Ibrahims, die sich etwa "Antonio" nennen und gerade ihren ersten Flaum tragen und die Baseballmütze falsch herum auf dem Kopf und alle 30 Sekunden auf den Boden rotzen. Die Kleinen haben vor ihrem ersten richtigen Kuss schon eine Jugendstrafe und Bewährung hinter sich und erzählen von Erpressung, Raub, Dealerei und Gruppenvergewaltigung so lakonisch, als würden sie Pizza bestellen. Die Kleinen sagen: "Was wollt ihr? So ist das hier, völlig normal."

Die Kleinen haben sich von den Großen eine Menge abgeguckt und wahrscheinlich zu viele schlechte Gangsterfilme gesehen. In schlechten Filmen hat der Boss immer einen Deppen an der Seite, der nur dumm guckt und kein Wort sagt und die Drecksarbeit erledigen muss. Antonio hält sich immer einen oder bei Bedarf auch mehrere Deppen, die er losschickt, um Handys aus Autos zu klauen oder eine frische Gras-Lieferung nach Hamburg zu bringen. Irgendwann will er sich auch einen Kampfhund kaufen, wenn erst mal die Stimmung wieder so ist, dass man den Viechern nicht den Hals umdreht oder sie erschießt oder aufschlitzt und dann in der Mülltonne versenkt. So war die Stimmung zuletzt in Wilhelmsburg. Nachdem alles so gekommen war, wie es nicht kommen musste.

Kurz vor der Tragödie, am 11. Mai, stupste die Staffordshirehündin Gipsy ein Kind von der Rückenlehne einer Bank und biss es in den Arm. Silja W. sprang sofort herbei, war fassungslos über ihren Hund und aufgeregt. Sie erklärte ihrem Freund Ibrahim, es wäre wohl besser, Gipsy erschießen zu lassen. "Gib ihr noch eine Chance", sagte Ibrahim.

An jenem Morgen führte Ibrahim K. Zeus und Gipsy aus. Er verließ das Loch von Wohnung und ließ die Tiere in den vermüllten Innenhof. Den Hunden ging es physisch gut, wie die Obduktion ergab. Neben menschlichen Geweberesten fand sich ausreichend Nahrung in ihren Mägen. Gipsy sprang vor Zeus über die Mauer von 1,40 Meter, hinüber auf den Schulhof. Es war gegen 11.40 Uhr und gerade Pause. Volkan, sechs Jahre alt, spielte Fußball.

An jenem Morgen hatte sich Volkan aus der Wohnung seiner Eltern in der Korallusstraße 10 verabschiedet. Und sein Cousin Cem Akin erinnert sich, was der Kleine zu seiner Mutter Ayfer sagte: "Mama, ich komme heute als Erster nach Hause."

Michael Streck

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