Bundesverfassungsgericht
- Pressestelle -
Pressemitteilung
Nr. 24/2001 vom 20. Februar 2001
Dazu
Urteil
vom 20. Februar 2001 - 2 BvR 1444/00 -
Erfolgreiche
Verfassungsbeschwerde gegen Wohnungsdurchsuchung
Urteil
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2000
Der
Zweite Senat des BVerfG hat heute ein Urteil verkündet, mit dem
er
die
verfassungsrechtlichen Anforderungen an Durchsuchungsanordnungen
aufgrund
von "Gefahr im Verzug" in Art. 13 Abs. 2 GG präzisiert.
I.
Der
Beschwerdeführer (Bf) ist Polizeibeamter. Seine Behörde führte
ein
Ermittlungsverfahren
gegen einen gewissen B. wegen
Betäubungsmitteldelikten.
Nachdem B. in einer polizeilichen Vernehmung
ausgesagt
hatte, der Bf habe ihm am 6. März 2000 bei einem zufälligen
Zusammentreffen
verraten, dass B.´s Telefon überwacht werde, wurde ein
Ermittlungsverfahren
gegen den Bf wegen Verdachts der Bestechlichkeit
und
der Verletzung des Dienstgeheimnisses eingeleitet. Am 12. April
um
12.15
Uhr beantragte die Staatsanwaltschaft (StA) die richterliche
Zeugenvernehmung
des B., die am selben Tage zwischen 13.05 Uhr und 13.15
Uhr
vorgenommen wurde. Am 13. April morgens wurde die Lebensgefährtin
des
B. als Zeugin polizeilich vernommen. Im Anschluss daran übernahm
gegen
11.00 Uhr "aus Gründen der Objektivität und Neutralität"
eine
andere
Polizeibehörde die Bearbeitung des Ermittlungsverfahrens gegen
den
Bf.. Am späten Vormittag ordnete der Eildienststaatsanwalt
telefonisch
die Durchsuchung von Arbeitsplatz, Wohnung, Fahrzeug und
Person
des Bf wegen Gefahr im Verzug an. Nach einem Vermerk des
sachbearbeitenden
Polizisten sei der Bf der Verletzung des
Dienstgeheimnisses
dringend verdächtig. Vorteilsannahme oder
Bestechlichkeit
sei "nicht auszuschließen".
Um
13.00 Uhr wurden das Dienstzimmer des Bf und um 14.00 Uhr seine
Wohnung
durchsucht. Die Polizei beschlagnahmte diverse Unterlagen und
Disketten.
Der Bf erhob sofort Widerspruch.
Der
Ermittlungsrichter am Amtsgericht bestätigte mit Beschluss vom
30.
Mai
2000 Durchsuchung und Beschlagnahme, "weil die Maßnahmen
nach dem
bisherigen
Stand der Ermittlungen gerechtfertigt waren, um Beweismittel
sicherzustellen,
die für die weitere Untersuchung von Bedeutung seien
können".
Der Bf war zuvor angehört, sein Antrag auf Akteneinsicht
allerdings
abgelehnt worden.
Während
des Beschwerdeverfahrens vor dem Landgericht stellte die
Staatsanwaltschaft
fest, dass die beschlagnahmten Unterlagen und
Disketten
keine beweiserheblichen Hinweise ergeben. Sie gab diese
zurück.
Nach
Akteneinsicht trug der Bf zur Begründung seiner Beschwerde
ergänzend
vor, die Voraussetzungen für die Annahme von Gefahr im Verzug
hätten
nicht vorgelegen. Der Akte lasse sich nicht entnehmen, aufgrund
welcher
Tatsachen die StA die Durchsuchung angeordnet habe. Auch sei
nicht
ersichtlich, welche Beweismittel die Durchsuchung erbringen
sollte.
Mit
Beschluss vom 19. Juli 2000 verwarf das Landgericht die
Beschwerde
als
unbegründet. Gefahr im Verzug habe vorgelegen; sie sei
anzunehmen,
wenn
eine richterliche Durchsuchungsanordnung nicht eingeholt werden
könne,
ohne den Zweck der Maßnahme zu gefährden. Ob dies der Fall
sei,
entscheide
der Beamte nach pflichtgemäßem Ermessen. Hier habe Anlass zu
der
Befürchtung bestanden, jede weitere zeitliche Verzögerung
werde zur
Vernichtung
von Beweismitteln führen. Insbesondere belastende Daten auf
Disketten
könnten durch einfachen Tastendruck in Sekundenschnelle
gelöscht
werden. Da die Einholung einer richterlichen Anordnung zu
zeitlichen
Verzögerungen hätte führen können, sei es nicht
ermessensfehlerhaft
gewesen, auf eine solche zu verzichten. Eine
bewusste
Ausschaltung des Richters sei das nicht, zumal absehbar gewesen
sei,
dass der Bf Widerspruch erheben und somit eine spätere
richterliche
Entscheidung
herbeiführen werde.
II.
Der
Zweite Senat des BVerfG hat die angegriffenen Beschlüsse des
Amtsgerichts
und des Landgerichts aufgehoben, soweit sie die
Durchsuchung
der Wohnung des Bf betreffen.
Sie
verletzen den Bf in seinen Grundrechten aus Art. 13 Abs. 1, Abs.
2
i.V.m.
Art. 19 Abs. 4 GG.
1.
Der Zweite Senat betont zunächst die Bedeutung des
Richtervorbehalts
in
Art. 13 Abs. 2 GG. Dieser dient der vorbeugenden Kontrolle des
mit
einer
Wohnungsdurchsuchung verbundenen Grundrechtseingriffs durch eine
unabhängige
und neutrale Instanz. Dabei hat der Richter nicht zuletzt
durch
eine geeignete Formulierung im Durchsuchungsbeschluss
sicherzustellen,
dass der Grundrechtseingriff messbar und kontrollierbar
bleibt.
Aus
Art. 13 GG folgt die Pflicht aller Staatsorgane, die Wirksamkeit
des
Richtervorbehalts
sicherzustellen. Gerichte und Strafverfolgungsbehörden
müssen
die Voraussetzungen für eine wirksame Kontrolle auch durch
organisatorische
Maßnahmen schaffen. Mängel, die zum Beispiel daraus
resultieren,
dass Ermittlungsrichter am Amtsgericht nicht erreichbar
oder
aufgrund zu hoher Arbeitsbelastung nicht hinreichend informiert
sind,
müssen behoben werden. Dies kann der einzelne Richter nicht
alleine;
Geschäftsverteilungspläne, Ausstattung des Gerichts, Aus- und
Fortbildungsangebote
für die Richter und die vollständige Information
durch
die Strafverfolgungsbehörden sind hierfür anzupassende
Rahmenbedingungen.
Die für die Organisation der Gerichte und für die
Rechtsstellung
der dort tätigen Ermittlungsrichter zuständigen Organe
der
Länder und des Bundes sind im Hinblick auf Art. 13 GG gehalten,
die
Voraussetzungen
für eine tatsächlich wirksame präventive richterliche
Kontrolle
zu schaffen.
Die
Annahme von "Gefahr im Verzug" verlagert die
Anordnungskompetenz
ausnahmsweise
vom Richter auf die Strafverfolgungsbehörden. Der Begriff
"Gefahr
im Verzug" im Grundgesetz ist daher eng auszulegen. Die
Anordnung
einer Durchsuchung durch StA und Polizei als
Strafverfolgungsbehörden
hat die Ausnahme zu sein. Dies ergibt sich
schon
aus der Formulierung des Grundgesetzes, die im Gegensatz zur
Weimarer
Reichsverfassung und dem Herrenchiemsee-Entwurf den
Richtervorbehalt
und die Ausnahmebestimmung über "Gefahr im Verzug"
ausdrücklich
in die Verfassung aufgenommen hat. Die Anordnung der
Durchsuchung
durch die Strafverfolgungsbehörden führt zum Wegfall der
präventiven
Kontrolle des Grundrechtseingriffs durch die neutrale
richterliche
Instanz. Zudem fehlt die eingriffsminimierende Wirkung der
schriftlichen
richterlichen Durchsuchungsanordnung. Durch eine
nachträgliche
richterliche Kontrolle kann der vorgenommene
Grundrechtseingriff
nicht rückgängig gemacht werden. Andererseits ist
der
Staat in Wahrung der Rechtspflege auch zur wirksamen
Strafverfolgung
verpflichtet.
Daraus folgt, dass die Strafverfolgungsbehörde in der Lage
sein
muss, so frühzeitig über das Vorliegen von "Gefahr im
Verzug" zu
entscheiden,
dass sie der Gefahr eines Beweismittelverlustes noch
wirksam
begegnen kann.
Nach
diesen Maßstäben muss im Rahmen des Möglichen sichergestellt
bleiben,
dass die Regelzuständigkeit des Richters für die
Durchsuchungsanordnung
bestehen bleibt. Das Vorliegen von "Gefahr im
Verzug"
kann nicht durch Spekulationen begründet werden, es müssen auf
den
Einzelfall bezogene Tatsachen vorliegen. Auch reicht die bloße
Möglichkeit
eines Beweismittelverlusts nicht aus. Die Voraussetzungen
für
die Eilzuständigkeit dürfen nicht durch ein Abwarten seitens
der
Strafverfolgungsbehörden
selbst herbeigeführt werden. Diese müssen
regelmäßig
zunächst versuchen, einen Richter zu erreichen. Die Gerichte
wiederum
müssen die Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters
sicherstellen.
2.
Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt der Anspruch des Bürgers auf eine
wirksame
Kontrolle der öffentlichen Gewalt durch unabhängige Gerichte.
Die
Gerichte müssen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt rechtlich
und
tatsächlich
überprüfen können; sie sind nicht an die Feststellungen und
Wertungen
der Behörden gebunden. Diese Verpflichtung findet ihre Grenze
da,
wo das materielle Recht der Exekutive in verfassungsrechtlich
unbedenklicher
Weise Entscheidungen abverlangt, ohne hinreichend
bestimmte
Entscheidungsprogramme vorzugeben. Art. 13 Abs. 1 und 2 GG
eröffnet
jedoch einen solchen Spielraum nicht. Die Frage, ob "Gefahr
im
Verzug"
vorliegt (bzw. im Zeitpunkt des Eingreifens der
Strafverfolgungsbehörden
vorlag) unterliegt der unbeschränkten
gerichtlichen
Kontrolle. Insoweit ist weder ein Ermessens- noch ein
Beurteilungsspielraum
der Strafverfolgungsbehörden gegeben. Allerdings
müssen
die Gerichte bei ihrer nachträglichen Beurteilung der Frage, ob
die
Strafverfolgungsbehörde zu recht wegen "Gefahr im
Verzug"
eingegriffen
hat, deren besonderer Situation Rechnung tragen. Der
Richter
darf seine nachträgliche Einschätzung der Lage nicht an die
Stelle
der Einschätzung der handelnden Beamten setzen. Er muss
berücksichtigen,
unter welchen Bedingungen die Beamten über eine
Durchsuchung
entschieden haben und welcher zeitliche Rahmen ihnen
gesteckt
war. Auch Umstände wie Zeitdruck, die Möglichkeit zur
Rücksprache
mit Kollegen und die situationsbedingten Grenzen von
Erkenntnismöglichkeiten
sind zu beachten.
Die
verfassungsrechtlich gebotene volle gerichtliche Kontrolle der
Annahme
von "Gefahr im Verzug" ist in der Praxis nur möglich,
wenn die
handelnden
Behörden die Grundlagen ihrer Entscheidung hinreichend
dokumentieren.
Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben sich daher für die
Strafverfolgungsbehörden
Dokumentations- und Begründungspflichten, die
den
wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz erst möglich machen. So
muss
zeitnah
dargelegt werden, aufgrund welcher Umstände der handelnde
Beamte
die
Gefahr eines Beweismittelverlusts angenommen hat. Das Gericht
muss
über
die konkrete Sachlage zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung
informiert
werden. Auch muss erkennbar sein, ob der Beamte versucht hat,
einen
Ermittlungsrichter zu erreichen.
Auf
der Grundlage einer solchen Dokumentation haben die
Strafverfolgungsbehörden
ihre Durchsuchungsanordnung in einem späteren
gerichtlichen
Verfahren zu begründen. Dabei müssen sie die gesetzlichen
Voraussetzungen
der Durchsuchung darlegen und begründen, warum eine
richterliche
Anordnung zu spät gekommen wäre sowie ggfs., warum von dem
Versuch
abgesehen wurde, eine richterliche Entscheidung zu erlangen.
3.
Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen
Entscheidungen den
Bf
in seinen Grundrechten aus Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. Art. 19
Abs.4
GG. Das Amtsgericht hat die Frage der Gefahr im Verzug überhaupt
nicht
geprüft. Das Landgericht hat angenommen, deren Feststellung
stehe
im
Ermessen der anordnenden StA. Wie der Zweite Senat ausführt,
hat es
damit
seinen Prüfungsmaßstab in grundrechtswidriger Weise verletzt.
Zudem
hat das Landgericht bei der Auslegung des Begriffs "Gefahr
im
Verzug"
die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 13 GG nicht
berücksichtigt.
Insbesondere hat es nicht aufgeklärt, aus welchen
Gründen
die StA hier Gefahr im Verzug angenommen hat.
Urteil
vom 20. Februar 2001 - Az. 2 BvR 1444/00 -
Karlsruhe,
den 20. Februar 2001
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