Die Sonderschullehrerin Ilse Brücke sitzt an ihrem
Ikea-Esstisch und trinkt schwarzen Kaffee. Über ihr, auf der Anrichte,
klemmt ein Gruppenbild der Familie - sie im Kreis von Mutter, Bruder und
Schwägerin. Gleich daneben eine Postkarte mit dem Satz: "Herr, lehre mich
die Kunst der kleinen Schritte."
In der vorvergangenen Woche tat die 48-Jährige aus
Paderborn einen großen Schritt. Sie griff zum schnurlosen Siemens-Telefon
und wählte die Nummer des Bundeskanzlers. Ilse Brücke wollte ihrem älteren
Bruder Gerhard persönlich erklären, warum sie Verfassungsbeschwerde gegen
die von Rot-Grün durchgesetzte Abschaffung des Haushaltsfreibetrags für
Alleinerziehende einreichen werde.
Der Kanzler, mitten in den Vorbereitungen für seine
Lateinamerika-Reise, kochte. "Nicht gerade einfach" sei es gewesen, "zu Wort
zu kommen", berichtet Brücke. Sätze wie "Halt dich da raus - ich bin der
Politiker!" seien gefallen und am Ende ein beleidigtes "Mir doch egal, was
du machst".
Von wegen egal. Nach Wochen voll politischen Ungemachs,
einem hässlichen V-Mann-Skandal und der Affäre um geschönte
Arbeitslosenstatistik hat Gerhard Schröder jetzt auch noch Zoff mit der
Verwandtschaft - und das mitten im beginnenden Bundestagswahlkampf.
Hatte des Kanzlers Familiensaga bisher eher Pluspunkte
eingebracht, stöhnte der Regierungschef jüngst vor verblüfften
Kabinettskollegen, der Springer-Verlag wolle ihm offensichtlich mit Hilfe
einer "von oben gesteuerten Kampagne" schaden. Die konservativen Blätter,
klagte der Medienprofi, ließen immer wieder seine Sippschaft mit
Regierungskritik zu Wort kommen.
Und die berichtet gern aus der prallen Lebensrealität der
deutsch-deutschen Arbeiterklasse. In Paderborn stichelt Schwester Ilse gegen
die rot-grüne Familienpolitik; in Thüringen schildert Ost-Cousine Inge
freimütig ihren Fall in die Erwerbslosigkeit, und von Detmold aus berieselt
Halbbruder Lothar, 54, die Republik regelmäßig mit archaischen Szenen aus
dem Alltag eines wegrationalisierten Kanalarbeiters. Der "Bruder ohne
Brioni" (Eigenwerbung) verfügt inzwischen über eine eigene Zeitungskolumne
und gibt seinen Namen für die Blödel-Homepage eines Radiosenders her.
Ähnlich medienerprobt ist inzwischen Kanzler-Cousine Inge
Siegel im fernen Thüringen. Hinter ihr der Blick auf die Wartburg, neben ihr
die rustikale Holzschrankwand, sitzt sie auf dem Sofa und kämpft sich durch
eine dicke Biografie ihres staatstragenden Cousins. Zeit hat sie dafür
reichlich.
Im Juli gab Inge Siegel, 58, ihren Job im Finanzamt auf.
"Hinausgemobbt" habe man sie. Obwohl ihre Familienbeziehung zum Kanzler der
Deutschen bekannt geworden sei, habe man sie mit Arbeit überschüttet. "Ich
habe mittags durchgemacht, doch es war nicht zu schaffen. Die wollten die
Älteren loswerden", klagt die quirlige Base.
Ein wirkliches Unglück ist der Jobverlust für sie jedoch
nicht. "Ich bin freischaffende Arbeitslose", sagt sie fröhlich, für knapp
600 Euro monatlich. Und sie müsse sich nicht ständig beim Arbeitsamt melden,
da sie ohnehin nicht die Absicht habe, wieder arbeiten zu gehen.
Mit dem Amt, erklärt Inge Siegel, sei vereinbart worden,
dass sie mit 60 Jahren in Rente geht; bei 18 Prozent Einkommenseinbuße.
Deshalb müsse sie auch nicht mehr vermittelt werden. Pikanterweise fällt des
Kanzlers Cousine damit aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik.
Kurz nach der Enthüllung ihres Schicksals via "Bild am
Sonntag" meldete sich eine "nette Frau Duden" aus Berlin und erklärte, der
Bundeskanzler wolle sie um 18.30 Uhr sprechen. "Hallo Inge", dröhnte es zur
angegebenen Zeit aus dem Telefon, "stimmt das, kann ich helfen?" "Nö", sagte
die Cousine, "ich komme zurecht."
Für Schröder-Schwester Ilse dagegen ist die Situation
durch die Abschaffung der Steuerklasse II alles andere als fröhlich. Nach
der Gesetzesänderung sei der Familienurlaub in Gefahr, auch die
Nachhilfestunden für ihren Sohn. Seit sieben Jahren ist die angestellte
Lehrerin Mitglied im Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. Hat
Unterschriften gesammelt und demonstriert. Immer inkognito - und immer
erfolglos.
Bis sie sich von der "Bild am Sonntag" zu einem Interview
überreden ließ. Das Blatt begrüßte daraufhin den frühstückenden
Regierungschef mit der Schlagzeile: "Die Politik meines Bruders kostet mich
2400 Mark im Jahr". Seitdem glühen die Telefonleitung und der Zorn des
Bruders.
"Klar ist das eine unschöne Situation", resümiert die
resolute Mutter von zwei Kindern. "Ich will Gerd nicht schaden, aber er hat
ja wirklich was verbockt. Wenn das 'ne andere Partei gemacht hätte, wäre ich
auch auf die Barrikaden gegangen."
An diesem Montag will sie Deutschlands höchstem Gericht
eine 17-seitige Verfassungsbeschwerde persönlich übergeben - und dann zur
Pressekonferenz bitten. Das Verfahren soll durch Spenden finanziert und
eisern durchgefochten werden.
Manchmal scheint Wasser doch dicker als Blut, auch wenn
Ilse Brücke weiterhin fest an den "ausgeprägten Gerechtigkeitssinn von Gerd"
glaubt. Nach dem Telefonat aber herrsche jetzt "erst mal Sendepause"
zwischen den Geschwistern.
Auch Inge Siegel hält - trotz Arbeitslosigkeit - weiter zu
ihrem Cousin. Es sei zwar nicht alles besser geworden seither, "aber der
Stoiber bringt es erst recht nicht".
SVEN RÖBEL, STEFFEN WINTER