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Newsletter von Maulkorbzwang und den Dogangels

Politisch?

Heute mit diesem:

* Rückblick --- Nur wer im Kopf behält, woher er kommt, weiß auch, wohin der Weg führt
 


Rückblick
Nur wer im Kopf behält, woher er kommt, weiß auch, wohin der Weg führt


http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,83359,00.html
 
03. Juli 2000
 
SICHERHEIT

Unterlassene Hilfeleistung

Nach dem Hamburger Kampfhundeskandal versucht die Union, erneut ihr Traditionsthema Innere Sicherheit zu besetzen. Den Konservativen kommt zugute, dass der Verdruss über die Versäumnisse in der Verbrechensbekämpfung anhält - obgleich die Kriminalitätsrate sinkt.

Wütend stapfte Gerhard Schröder ins Kanzleramt. Mit dem Instinkt des "political animal", wie Parteifreunde rühmen, hatte der Regierungschef am Mittwoch vergangener Woche beim Blick in die Zeitungen höchste Gefahr gewittert: Zwei Hunde namens Zeus und Gipsy drohten allen Ernstes, das Macherimage der Koalition zu gefährden.

"Jetzt ist Schluss mit dem Polit-Blabla" ("Bild") - mit aggressiven Schlagzeilen hatte die Presse unisono auf den Tod des sechsjährigen Schülers Volkan reagiert, der am vorigen Montag in Hamburg-Wilhelmsburg von zwei Kampfhunden zerfleischt worden war: In der großen Pause, auf dem Weg zur Turnhalle, hatten Volkan und ein Dutzend Mitschüler fröhlich einen Ball gekickt, als die beiden Hunde heranschossen. Die Tiere rissen ihrem Opfer den Kopf halb ab. Volkan war sofort tot.

 

DER SPIEGEL

Verantwortlich für das Blutbad machten Kommentatoren von links bis rechts, in seltener Einigkeit, nicht allein die Hundehalter, den 23-jährigen Türken Ibrahim K. und seine 19-jährige Freundin, sondern jene Politiker in Bund und Ländern, die sich jahrelang außer Stande gezeigt hatten, der Mordsviecher Herr zu werden. Der Staat, schrillte die "Welt", stehe "den kriminellen Energien der meisten Kampfhundehalter in nichts nach".

Eine Rekordflut von Leserbriefen signalisierte, dass auch Millionen von Deutschen in dem Skandal ein Politikum sahen: ein Symptom für die Unfähigkeit des Staates, seine Bürger hinreichend vor krimineller Gewalt zu schützen.

Im Kanzleramt referierte zunächst Innenminister Otto Schily artig über politisch und juristisch mögliche Anti-Kampfhunde-Maßnahmen. Als Justizministerin Herta Däubler-Gmelin rechtliche Bedenken äußerte, verlor der Kanzler die Geduld. Brüsk wies er die Kollegin zurück. "Wir müssen sofort handeln", ordnete der Leitwolf an, "das Thema regt die Leute auf." Schröder wollte nicht den innenpolitischen Bonus aufs Spiel setzen, den sein Minister Schily inzwischen selbst bei konservativen Wählern erworben hat. Für die Öffentlichkeit fand der Kanzler angemessen starke Worte: "Diese Kampfmaschinen müssen von der Straße."

Verärgert hatte Schröder wahrgenommen, dass Schlagzeilen über den Hundeskandal teils sogar die Berichte über jüngste Reform-Erfolge der Regierung von den Titelseiten verdrängt hatten - und dass die Opposition prompt die Chance ergriff, mit ihrem Traditionsthema, der Inneren Sicherheit, Punkte zu machen.

Auf dem Höhepunkt der Erregung über Volkans Tod präsentierten die Unionsfraktionen und die Unionsländer ein Programm zur Verbrechensbekämpfung, dessen Titel "Null Toleranz" der New Yorker Polizeistrategie entlehnt ist. Das Papier bündelt zum Teil heikle Vorschläge - von weiträumiger Video-Überwachung über eine Bürgerpolizei bis hin zum Lauschangriff auf Redaktionen und Arztpraxen. Norbert Spinrath, Chef der Gewerkschaft der Polizei, bekam beim Lesen "eine Gänsehaut": "Das ist der Weg in den Überwachungsstaat."

Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber ließ derweil mit berechtigtem Stolz verbreiten, dank einer 1992 erlassenen bayerischen "Verordnung über Hunde mit gesteigerter Aggressivität" sei der CSU-Staat nahezu Pitbull-frei. In der Tat ist es in Bayern praktisch unmöglich, bestimmte Kampfhundearten zu erwerben: Interessenten müssen charakterlich zuverlässig sein und darüber hinaus etwa ein "wissenschaftliches Interesse" nachweisen. Mit dieser Regelung, frohlockt ein Münchner Innenministerialer, verfüge der Freistaat über "einen Hebel gegen Zuhälter".

In Berlin dagegen werden bis zu 15 000 Kampfhunde gehalten, in Hamburg immerhin rund 4000 - keineswegs nur im Puff-Milieu von St. Pauli, sondern auch in sozialen Brennpunkten wie auf der Elbinsel Wilhelmsburg, wo Ibrahim K. die beiden Beißmaschinen abgerichtet hatte, die den kleinen Volkan massakrierten.

Sozialdemokratische Parteistrategen wähnten vorige Woche bereits die rot-grüne Mehrheit in der Hansestadt bedroht, in der nächstes Jahr gewählt wird. Denn ausgerechnet der sozialdemokratische Bürgermeister Ortwin Runde war Anfang der Neunziger - als die aggressiven Tiere aus Bayern verbannt wurden - als Sozialsenator auch für die Versäumnisse in der Kampfhundebekämpfung verantwortlich.

Knapp 48 Stunden nach Volkans Tod legte derselbe Runde eine siebenseitige "Verordnung zum Schutz vor gefährlichen Hunden" vor, "die schärfsten Vorschriften", die es bundesweit gebe. Dass plötzlich innerhalb kürzester Zeit realisierbar sein sollte, was zuvor jahrelang an der Trägheit der Entscheider und am Widerstand der Hundehalter-Lobby gescheitert war, die sogar Maulkörbe als "nicht artgerecht" beanstandete - das ließ indes die Bürgerwut noch wachsen.

"Immer muss was passieren, bevor was passiert", schimpften Passanten in Reportermikrofone. Und von Tag zu Tag schien der Volkszorn weiter anzuschwellen. Ungeachtet der alten Reporterregel, "Mann beißt Hund" sei eine gute Schlagzeile, nicht aber "Hund beißt Mann", berichteten die Medien über immer neue "Beiß-Vorfälle" (Amtsdeutsch).

Die Debatte in den Leserbrief- und Kommentarspalten nahm unterdessen eine - hochpolitische - Wende ins Grundsätzliche. Autoren jeglicher Couleur verstanden die staatlichen Versäumnisse im Kampf gegen die Killerhunde als Symptom für ein generelles Versagen der Gewählten, die es unterlassen, dem Sicherheitsbedürfnis ihrer Wähler Rechnung zu tragen - man beißt Hund, meint aber die Politik.

In den Augen vieler Bürger, so zeigte sich, stehen die Verantwortlichen in Parlamenten, Regierungen und Gerichten als Weicheier da, "die Durchsetzungsfähigkeit nur bei Hühnerdieben und Parksündern beweisen und die Polizei zu einem Trachtenverein verkommen lassen", wie ein Leserbriefschreiber in der "Bild"-Zeitung die Stimmung im Land auf den Punkt brachte.

Doch nicht nur konservative Law-and-Order-Prediger, sondern auch Leitartikler liberaler und linker Blätter beklagten die Untätigkeit des Staates. "Exemplarisch", so die "Süddeutsche", zeige der zähe Entscheidungsgang im Kampfhundefall, "wie sehr auch ein Vorhaben, das allgemein als wichtig und richtig erkannt wird, im Streit von Lobbys, Interessengruppen und Parteien zerredet werden kann".

Auch die alternative "taz" stimmte in die Forderung ein, der Staat müsse verstärkt den Anspruch der Allgemeinheit auf "Freiheit von körperlichen Angriffen" durchsetzen - zu Lasten des individuellen Anspruchs auf "Freiheit von staatlichen Eingriffen". Überhaupt - was für Typen, diese Killerhundehalter: "Wir kennen sie, und wir treffen sie überall. Die Schultheiß-Büchse in der linken, die Hundeleine in der rechten Hand, die Haare fettig, die Tattoos ausladend, die Goldkettchen üppig, die Visage dämlich."

Als hätte der Tod des kleinen Volkan eine Schleuse geöffnet - überall im Land schwappte Verdruss über einen Staat hoch, der Gewalttaten toleriert und sich seinen Bürgern gegenüber gleichsam unterlassener Hilfeleistung schuldig macht. Je nach ideologischem Standort zielt das Unbehagen allerdings auf ganz unterschiedliche Vorfälle.

Bei manchem Einäugigen links von der Mitte beschränkt sich das Entsetzen darauf, dass Dunkelhäutige, aber auch Punks mit bunten Haaren vielerorts in den neuen Ländern um ihr Leben fürchten müssen - vor allem in den "national befreiten Gebieten", wie Neonazis zynisch jene Zonen nennen, in denen Bürgermeister und Pfarrer, Lehrer und Ortspolizisten vor der rechtsradikalen Gewalt schon kapituliert zu haben scheinen.

 

 

DER SPIEGEL

Rechts von der Mitte fokussieren sich Hass und Ängste dagegen vorwiegend auf afrikanische Heroinhändler, albanische Serieneinbrecher und andere zugereiste Kriminelle, aber auch auf deutsche Bewohner so genannter rechtsfreier Räume wie der "Roten Flora" in Hamburg, einer vom Senat geduldeten Fluchtburg militanter Linker.

Zwischen den politischen Flügeln wiederum, im breiten Rumpf der Gesellschaft, gärt diffuser Unmut, der sich aus vielerlei Quellen speist - und dessen Dimensionen viele Politiker in jüngster Zeit womöglich stark unterschätzt haben.

Selbstgefällig verweisen Innenminister und Polizeiexperten immer wieder auf die amtliche Kriminalstatistik, die, nach Jahrzehnten des Anstiegs, seit 1995 in der Tat kontinuierlich sinkende Deliktzahlen aufweist - von 8179 auf 7682 Straftaten pro 100 000 Einwohner. Im selben Zeitraum hat auch das Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung abgenommen.

Allerdings: Was Politiker schon als Erfolg verkaufen, verursacht immer noch Ängste. Nach wie vor bewegt sich das Bedrohungsgefühl (Fachjargon: "Viktimisierungserwartung") auf hohem Niveau. Bei einschlägigen Erhebungen befürchteten beispielsweise 26 Prozent der Ost- und 23 Prozent der Westdeutschen, sie selbst würden während der nächsten zwölf Monate "wahrscheinlich" oder "sehr wahrscheinlich" von Einbrechern heimgesucht.

Wie immer sich die Zahl der wirklich begangenen Delikte auch entwickelt: Das subjektive Bedrohungsgefühl ist, wie Kriminologen wissen, weitgehend unabhängig von objektiven Daten. Und die Bürgerängste könnten jäh wieder emporschnellen, etwa nach einer Kette dramatischer Kriminalfälle. Daran aber hat es gerade in jüngster Zeit nicht gemangelt.

Schieres Entsetzen lösen Berichte über Jugendliche aus, die ihre Lehrerin erstechen (wie im vergangenen November in Meißen) oder ihren Schulleiter erschießen (wie im März bei Rosenheim). Und fassungslos registriert das Publikum, dass Kriminelle heute offenbar weniger denn je vor Polizistenmorden zurückschrecken.

Im Osten fahren rumänische Tresorknacker schon mal Beamte über den Haufen, die sich ihnen in den Weg stellen. Im Ruhrgebiet erschoss erst vorigen Monat ein Rechtsradikaler bei einer Verkehrskontrolle drei Uniformierte. Vergangene Woche - seit Jahresbeginn waren sieben Beamte im Dienst ums Leben gekommen - beschlossen die Innenminister, die Polizei mit schusssicheren Westen auszustatten.

Womöglich noch mehr Emotionen als Polizistenmorde wecken Gewalttaten gegen Kinder - von der Pitbull-Attacke bis zum Sexualdelikt - sowie gegen alte Menschen, die bei Raubüberfällen in Wohnungen immerhin 17 Prozent der Opfer ausmachen. Spitzenwerte erreicht die Kriminalitätsangst bei Menschen, in deren Wohngegend sich Einbrüche oder Überfälle häufen. Fast zwei Drittel der befragten Frauen und mehr als die Hälfte der Männer fühlen sich dann laut einer BKA-Studie verunsichert, 21 Prozent der Frauen im Westen und 17 Prozent im Osten haben "richtig Angst".

Wut und Ohnmachtsgefühle grassieren, wenn abends Maskierte in die Stammkneipe eindringen und die Gäste zwingen, Geld und Schmuck herauszugeben - in großen Städten kein Einzelfall. Und Empörung kommt auf, wenn Eltern erfahren, dass ihre Kinder auf dem Schulhof von Jugendbanden gezwungen werden, das Taschengeld, den Walkman oder die Helly-Hansen-Jacke herauszurücken - ein Delikttyp, auf den die breite Öffentlichkeit erst aufmerksam wurde, als sich 1997 in Hamburg-Neuwiedenthal das Erpressungsopfer Mirco, 17, aus Verzweiflung vor die S-Bahn warf und starb.

Abhängig ist die Kriminalitätsangst nicht zuletzt von Bildung und Sozialstatus der Interviewten - unter anderem auch, weil besser Gebildete und besser Verdienende durchweg in besseren Gegenden wohnen. So fühlen sich zwar 32 Prozent der befragten Hauptschulabsolventen "ziemlich" oder "sehr unsicher", aber nur 26 Prozent der Abiturienten.

Von Ausnahmen abgesehen, gilt in Städten die Faustregel, dass die Angst vor Kriminalität mit der Einwohnerzahl des Wohnortes steigt - zumal der Asphaltdschungel der meisten Metropolen all das birgt, was das Sicherheitsgefühl beeinträchtigt: herumlungernde Betrunkene und aggressive Bettler, verschmutzte Straßen und beschmierte Häuser, dazu eine fest etablierte Drogenszene. Der Anteil der Westdeutschen, die in ihrem Wohnviertel Drogenhandel und -konsum beobachten, hat sich laut BKA-Studie binnen acht Jahren fast verdreifacht - von 8 auf 22 Prozent.

Verdruss bereitet, dass die Aufklärungsquote bei Massendelikten seit Jahren konstant niedrig ist. So wird etwa gut jeder vierte Handtaschenräuber ermittelt, bei Autoaufbrüchen und großstädtischen Wohnungseinbrüchen dümpelt die Quote bei 10, bei Taschendiebstahl bei 5 Prozent. Die Chance, dass ein Fahrraddieb gefasst wird, tendiert gegen Null.

Die allgemeine deutsche Verunsicherung treibt immer mehr Deutsche zur Selbsthilfe. Von Einbrüchen geplagte Hausbesitzer schließen sich wie im schleswig-holsteinischen Großhansdorf zur "Bürgerwacht" zusammen. Reiche Gymnasiasten-Eltern spendieren ihren Kindern - wie im feinen Hamburg-Othmarschen - schon mal private Bodyguards. Und auch viele Kommunen, Händlerverbände und Verkehrsbetriebe engagieren Wachmänner privater Sicherheitsdienste.

Die Branche boomt wie nie zuvor. Rolf Stober von der Hamburger Forschungsstelle Sicherheitsgewerbe schätzt die Zahl der Beschäftigten in privaten Security-Unternehmen auf 250 000 - fast so viele wie Polizeibeamte.

Angeknackst ist nicht nur das Vertrauen der Deutschen in die Polizei, sondern auch in die Justiz. Deren Mühlen mahlen mitunter so langsam, dass selbst mutmaßliche Schwerverbrecher auf freien Fuß gesetzt werden müssen, weil Staatsanwälte - sei es aus Faulheit, sei es aus Überlastung - Fristen verschlampen oder Advokaten Prozesse verschleppen, um eine Verjährung zu erzwingen. Seit 1990 mussten beispielsweise in Hamburg 73 Beschuldigte, denen zum Teil schwere Straftaten zur Last gelegt wurden, aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Die vorgeschriebene Frist von sechs Monaten zwischen Festnahme und Anklageerhebung war nicht eingehalten worden.

Besonders schwer tun sich Politik und Justiz mit zwei der größten Tätergruppen: Jugendlichen und Ausländern - und folglich auch mit ausländischen Jugendlichen.

Der junge Münchner, den die Medien "Mehmet" nannten, ist zur Symbolfigur für staatliches Versagen geworden. Der Türke, der schon im Kindesalter so viele Taten auf dem Kerbholz hatte wie ein erwachsener Gewohnheitsverbrecher, wurde 1998 nach vielerlei gescheiterten Erziehungs- und Besserungsbemühungen schließlich in die Türkei ausgewiesen.

Ähnliche Fälle haben die Debatte darüber belebt, ob junge Übeltäter, die dem Gesetz den Stinkefinger zeigen, wenn nicht härter, so doch schneller bestraft werden sollten. "Gewalttätige Jugendliche müssen das Recht rechtzeitig kennen lernen", fordert FDP-General Guido Westerwelle.

Anfang der neunziger Jahre, als die so genannten Crash-Kids in gestohlenen Autos durchs Land jagten, hielten es Pädagogen für die beste Methode, die Jugendlichen zwecks "Erlebnispädagogik" in ferne Länder zu bringen. Damit sollten die Kids ihrem kriminellen Umfeld entzogen und Bürger vor Verbrechen bewahrt werden.

Doch mittlerweile gilt die Reisepädagogik weithin als diskreditiert. Bei vielen Steuerzahlern hat sich der Eindruck verfestigt, das Konzept sei ineffektiv und werde schlicht als Urlaub empfunden. "Jugendliche Wiederholungstäter", glaubt auch der Liberale Westerwelle, "verstehen Erlebnispädagogik auf Gomera eher als Belohnung denn als Bestrafung."

Inzwischen folgen viele Richter dem Druck der Öffentlichkeit und verhängen verstärkt wieder Freiheitsstrafen - mit allerdings fragwürdigen Folgen. Bei einer Tagung von Jugendrichtern und Sozialarbeitern in Heidelberg berichteten Fachleute, die meisten Jugendgefängnisse seien eklatant überbelegt. In Hamburg müssen Jugendliche, die Arreststrafen absitzen sollen, am Wochenende schon mal nach Hause geschickt werden, weil es an Personal mangelt.

Diskutiert wird von Experten zunehmend die Frage, ob nicht geschlossene Heime für Schwersterziehbare wieder zu einem wichtigen Bestandteil der Jugendhilfe werden sollten. Die Fachleute denken dabei nicht an die Kinderknäste von einst, sondern an therapeutische Einrichtungen, in denen die Zöglinge pädagogisch intensiv betreut werden, aber keinen oder nur streng reglementierten Ausgang haben.

Zurzeit gibt es solche Einrichtungen in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen; die hessische CDU/FDP-Regierung will sie demnächst wieder einführen. Auch Ex-Grünen-Chefin Gunda Röstel glaubt, das Projekt biete Gefährdeten eine "Rückkehrchance in ein gewaltfreies Leben": "Es muss Schluss sein mit der Wegschau-Gesellschaft."

Zunehmend in die Praxis umgesetzt wird mittlerweile die Erkenntnis, dass gerade bei Jugendlichen die Strafe der Tat möglichst rasch folgen muss. Bewährt hat sich das so genannte beschleunigte Verfahren etwa in Offenbach. Seit es dort im Mai 1999 zu schweren Hooligan-Krawallen kam, haben die Behörden, so ein Sprecher, ihre Zusammenarbeit "deutlich optimiert": Vor jedem Fußballspiel leitet die Polizei ihre Lageeinschätzung an die Staatsanwaltschaft weiter. Ist mit Krawallen zu rechnen, sitzt ein Staatsanwalt im Stadion; spezielle "Beweissicherungseinheiten" der Polizei dokumentieren Ausschreitungen auf Video. Ein Richter ist abrufbereit.

Mancherorts scheitern die Bemühungen um Prozessbeschleunigung noch immer an der Realität. Überlastete Gerichte neigen dazu, Strafsachen erst einmal anzuhäufen und dann zu verhandeln - unterdessen rauben und schlagen sich die Kids weiter durchs Leben.

Der 16-jährige Pascal etwa hatte bereits 80 Straftaten hinter sich, zumeist Diebstähle und Schwarzfahrten, als er im vergangenen November in Hamburg erstmals vor Gericht stand. Die vom Jugendrichter ausgesprochene Auflage, keine Diebstähle mehr zu begehen und regelmäßig die Schule zu besuchen, schlug er in den Wind. Anfang Mai stand Pascal erneut vor Gericht, diesmal ging es um Resttaten aus dem Jahre 1999 sowie um etliche neue Delikte, darunter nun auch Raub und Körperverletzung. Dutzende von Zeugen wurden befragt, doch zu einem Urteil kam es nicht: Richter Achim Katz, ein selbst unter liberalen Sozialarbeitern für übergroße Milde berüchtigter Linker, wollte erst die Schuldfähigkeit von Pascal feststellen lassen. Doch zum Psychologen mochte der Junge partout nicht gehen, er weigerte sich schlicht. Feixend verließ er den Gerichtssaal. Seither ist das Verfahren in der Schwebe.

Nicht zuletzt solche Justizpraxis hat in Hamburg den Bürgerärger über Jugend- und Ausländerkriminalität in jüngster Zeit derart eskalieren lassen, dass sich ein Polit-Außenseiter, der Richter Ronald Schill, schon Chancen für die nächste Bürgerschaftswahl ausrechnen kann. Der forsche Schill, genannt "Richter Gnadenlos", hatte seinen Justizkollegen öffentlich Laxheit attestiert.

Der Jurist, eine Art hanseatischer Haider, könnte vor allem davon profitieren, dass sich viele Hamburger zunehmend vor Bandenkriegen junger Ausländer ängstigen. Der Kampf um den Einfluss im Drogen- und Bordellmilieu wird bisweilen auf offener Straße ausgeschossen; kürzlich knallte es sogar vor dem Portal des Polizeipräsidiums.

Nicht weniger als 11 bewaffnete Auseinandersetzungen in Discotheken und anderen Lokalen seit Jahresbeginn sichern Hamburg in dieser Deliktsparte einen bundesdeutschen Spitzenplatz. Fast immer waren die Täter Ausländer. Ihre Bewaffnung reichte vom folkloristisch anmutenden Krummdolch über Maschinenpistolen bis hin zur Handgranate, die der 28jährige Cüneyt Dogac im Mai in der Disco "J's" warf und durch die zehn Menschen verletzt wurden.

Nach Dogacs Verhaftung wurden Details über dessen kriminelle Karriere publik: In den vergangenen zwölf Jahren hatten die Behörden 33-mal gegen ihn ermittelt - wegen Drogenhandel und Diebstahl, Nötigung und Zuhälterei, schwerer Körperverletzung und illegalem Waffenbesitz sowie einer Reihe von Verkehrsdelikten. Nicht immer reichten die Beweise zur Verurteilung, wenn doch, fand er milde Richter und kam mit Bewährungs- oder Geldstrafen davon.

Eine Ausweisung jedenfalls wurde offenbar niemals ernsthaft erwogen. Der heute Zuständige im Bezirksamt Mitte, Gerthold Roch, erinnerte sich im SPIEGEL-TV-Interview lediglich an eine - "vergleichen wir es mal mit einem Fußballspiel" - Verwarnung: "Weil es eine Reihe von Verfehlungen gab, hat man ihn in einem Gespräch 1997 darauf hingewiesen: ,Freundchen, das muss anders werden.'"

Ob eine Ausweisungsverfügung, wenn sie erfolgt wäre, rechtlich Bestand gehabt hätte, ist umstritten. Rüdiger Bagger, Sprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft, beurteilt den Fall skeptisch: "Der Mann ist in Deutschland geboren und besitzt eine Aufenthaltserlaubnis, genießt somit erhöhten Ausweisungsschutz."

Zwingend ist eine Ausweisung wegen "besonderer Gefährlichkeit" nach dem Ausländergesetz erst dann, wenn ein Täter rechtskräftig zu einer "Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt" wurde - oder binnen fünf Jahren mehrmals Haftstrafen von "zusammen mindestens drei Jahren" erhalten hat.

Unterhalb dieses Strafmaßes haben die Behörden Ermessensspielraum. So können Ausländer auch abgeschoben werden, wenn sie gegen eine "für die Ausübung der Gewerbsunzucht" geltende Norm verstoßen haben oder "Heroin, Kokain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbrauchen". Dogac war der Polizei als Dealer und als Drogenkonsument bekannt.

Der Sprecher der Hamburger Ausländerbehörde, Norbert Smekal, räumt mittlerweile ein, "rein theoretisch" sei eine Ausweisung Dogacs möglich gewesen. Aber: "Es ist in diesem Fall nie zu einer Verurteilung gekommen, die eine vernünftige Grundlage gewesen wäre. Und Ermessensentscheidungen haben vor den Verwaltungsgerichten nicht immer Bestand."

Erleichtert würde in vergleichbaren Fällen eine Ausweisung, wenn sich der Hamburger CDU-Innenexperte Heino Vahldieck mit seiner Forderung durchsetzt, Ausländer bereits bei illegalem Waffenbesitz des Landes zu verweisen. Dass viel Zeit vergehen kann bis zu einer Änderung des Ausländergesetzes, ist ihm klar: "So makaber es klingt - schnell geht es offenbar nur, wenn etwas Schreckliches passiert. Das hat die Kampfhunddebatte gezeigt."

Tatsächlich demonstriert das Gezerre um die Hunde-Verordnung, wie Kompetenzgerangel, Paragrafenreiterei und Bedenkenhuberei notwendige Entscheidungen verhindern oder verzögern können. Vor über einem Jahr beispielsweise, im März 1999, hatte Ekkehard Wienholtz, damals Innenminister von Schleswig-Holstein, seinen Kollegen aus den anderen Ländern ein "Mustergesetz" gegen Kampfhunde vorgeschlagen, das ein weit reichendes Import- und Zuchtverbot sowie eine Art Führerschein für die Halter bestimmter Rassen vorsah.

Doch einige Bundesländer bremsten ab, Nordrhein-Westfalen und Hamburg zeigten sich mäßig begeistert, vehement blockierte der rheinland-pfälzische Innenminister Walter Zuber (SPD) die Initiative. Ihn störte schon der Begriff "Kampfhund" - so wurde das Problem in eine Arbeitsgruppe delegiert. Während Kynologen und Ethologen an den erbetenen Stellungnahmen arbeiteten, bissen die Biester immer wieder zu. Dutzende von Opfern erlitten seither zum Teil schwere Verletzungen.

Für Klaus Schaarschmidt gehört das Flicken solcher Wunden längst zum Alltag. 258 Bissverletzungen bei Kindern hat der Kinderchirurg am Klinikum Berlin-Buch in den letzten fünf Jahren verarztet. 24 schwere Fälle waren darunter; einmal hatte ein Schäferhund ein Kind aus dem Bett geholt und den kleinen Brustkorb quer durchgebissen. 8500 Fälle schwerer Gesichtsverletzungen vermutet der Professor jährlich in Deutschland. Skalpierungen und Querschnittlähmungen von Kindern, denen Hunde in den Nacken gebissen haben, seien "gar nicht untypisch".

Dennoch: Was der SPD-Mann Wienholtz - mit Unterstützung der CSU und von Kollegen aus den neuen Ländern - "zum Schutz der Menschen" auf den Weg bringen wollte, war bereits im Frühjahr 2000 gründlich zerredet. Auf einer Sitzung der Innenminister am 5. Mai kam nur ein lauer Kompromiss zu Stande.

Viel Verständnis zeigten die Beamten der Arbeitsgruppe für Rathaus-Bedienstete: Den Mitarbeitern der Ordnungsämter sei es "nicht zuzumuten, näheren Kontakt mit den Hunden aufzunehmen". Das war ein willkommenes Argument für Skeptiker wie den Mainzer Zuber, die glaubten, durchgeknallten Hundehaltern sei ohnedies nicht beizukommen.

Andere Töne wurden erst nach Volkans Tod angeschlagen. "Die Menschen haben doch kein Verständnis mehr", erkannte Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel, "wir keulen Hunderttausende von Schweinen beim bloßen Verdacht auf Schweinepest, und wenn Kinder von überzüchteten Hunden zerfleischt werden, halten wir uns mit rechtlichen Bedenken auf."

Vergangenen Mittwoch wollten alle Innenminister so forsch sein wie die Bayern. Gerade mal 25 Minuten dauerte eine rasch einberufene Telefonkonferenz, und schon war das Zuchtverbot für drei Rassen zum Mindeststandard erklärt. Um die aggressiven Viecher auszurotten, sollen sie zudem kastriert oder sterilisiert werden - manche Rassen werden wohl bald nur noch im Zoo zu sehen sein.

Für Bürgermeister Runde könnte das Drama in Wilhelmsburg noch politische Folgen haben. Befragt nach den Gründen für die bisherige Passivität, verwies der Sozialdemokrat auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts, das 1992 die damalige Kampfhunde-Verordnung beanstandet hatte. Runde: "Wir haben getan, was uns die Gerichte erlaubt haben."

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Moniert hatte das Gericht lediglich, dass eine Aufzählung gefährlicher Rassen unvollständig sei und daher gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße.

Nach dem Urteil ruderte Runde, damals zuständiger Senator, weit zurück - allzu weit. Obwohl das Gericht es überhaupt nicht verlangt hatte, verzichtete Hamburg in der Neufassung auf die schärfste Waffe der alten Verordnung: die "Erlaubnis für die Zucht und das Halten von Kampfhunden" nach bayerischem Muster.

Wäre auch in Hamburg eine solche Erlaubnis notwendig gewesen - der vorbestrafte Ibrahim K. hätte sie wohl kaum bekommen.

JOCHEN BÖLSCHE, CARSTEN HOLM, GUNTHER LATSCH, UDO LUDWIG, GEORG MASCOLO, DIETMAR PIEPER, NORBERT F. PÖTZL, ANDREAS ULRICH, STEFFEN WINTER

 

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hem Muster.

Wäre auch in Hamburg eine solche Erlaubnis notwendig gewesen - der vorbestrafte Ibrahim K. hätte sie wohl kaum bekommen.

JOCHEN BÖLSCHE, CARSTEN HOLM, GUNTHER LATSCH, UDO LUDWIG, GEORG MASCOLO, DIETMAR PIEPER, NORBERT F. PÖTZL, ANDREAS ULRICH, STEFFEN WINTER

 

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