- Newsletter - Archiv


5.07.2001 - 2
+++ Newsletter von Maulkorbzwang.de und den Dogangels +++

 

 

Über die Macht der Bildzeitung

 

Nicht ganz passend zum Thema Hunde, aber zu interessant, um nicht verbreitet zu werden.

 

Es ist ein Stich ins Herz

Ein Streitgespräch zwischen Günter Wallraff, dem Mann, der bei Bild Hans Esser war, und dem früheren Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje 

Das fängt ja gut an: 

Der eine verträgt keinen Zigarrenrauch, der andere kann ohne eine schmauchende Havanna nicht denken.

 Günter Wallraff (links) braucht frische Luft, rät zu Kaffee oder Schnaps. Für Hans-Hermann Tiedje (rechts) keine Alternative zur geliebten Zigarre, doch dann zeigt er sich jovial: "Gib mir mal 'nen Aschenbecher. Ich lass' sie ausgehen." Es ist eine Begegnung der besonderen Art, die da in Köln stattfindet: Der Schriftsteller Günter Wallraff ist der Mann, der 1977 bei Bild Hans Esser war und mit seinem Buch "Der Aufmacher" dem Springer Verlag die Nerven blank legte.

 Hans-Hermann Tiedje kennt den Verlag in- und auswendig, stand er doch mehr als fünf Jahre lang an der Spitze der Bild-Zeitung. Es ist das erste Mal, dass ein Springer-Mann, wenn auch ein ehemaliger, und der Erzfeind des Konzerns zusammentreffen. Fast ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen der Bücher "Der Aufmacher", "Zeugen der Anklage" und "Bild-Störung". Es geht in dem FR-Gespräch, das Ingrid Scheithauer und Katrin Wilkens moderierten, um Bild, um Springer und die Zeitläufte, um die Kritik an dem Medien-Konzern, um Journalismus im Allgemeinen und Boulevard- Journalismus im Besonderen.

FR: Herr Tiedje, Sie waren Chefredakteur der Bild-Zeitung von 1989 bis

1992. Hat Günter Wallraff in seinem Buch "Der Aufmacher" die

Arbeitsweise der auflagenstärksten deutschen Boulevard-Zeitung richtig erfasst und beschrieben?

Hans-Hermann Tiedje: Ich habe den "Aufmacher" bis heute nicht im Detail gelesen, ebenso wenig wie das Anti-Buch von Springer, das dagegen gesetzt wurde. Ich habe an dem Journalisten Wallraff vieles auszusetzen, aber ich kannte Günter Wallraff andererseits als beinharten Reporter mit manchmal enormen Qualitäten. So einen wie den hätten wir in meiner Zeit bei Bild oft gern gehabt. Allein dieses Foto von Wallraff auf Gerlings Schreibtisch oder dass einer hingeht und sich in Athen ankettet, um gegen die Junta zu protestieren und daraus eine Riesengeschichte macht, oder die Sache als Türke Ali - all diese Geschichten kannte ich natürlich, und ich kannte auch das Gesicht dieses Mannes. Deswegen habe ich mich immer gefragt: Wie konnte dieser Mann Reporter werden bei Bild, ohne dass man ihn erkannte?

Günter Wallraff: Ich hatte mich schon ziemlich umgekrempelt. Ich hatte mich damals, zu einer Zeit, als man lange Haare trug, zu einem sehr schneidigen Typen umstilisiert und als Bewerbungsköder angegeben, ich sei zuvor Leutnant bei der psychologischen Kriegsführung gewesen, obwohl ich Kriegsdienstverweigerer bin.

Tiedje: Natürlich kannte ich auch das Foto von Hans Esser; dennoch 

habe ich mich immer gefragt: Wie war das möglich? Denn: Jenseits der

sachlichen Auseinandersetzung war das zunächst doch vor allem ein

Lacherfolg.

Aber das Lachen blieb einem doch im Hals stecken, angesichts der

aufgedeckten Machenschaften.

Tiedje: Damals haben eine ganze Menge Leute zunächst einmal darüber

gelacht. Erst schleicht sich Wallraff bei Gerling ein, dann auch noch

bei Bild. Bevor ich Wallraff überhaupt kannte, habe ich mindestens

zehn Mal in unserer Redaktion gesagt: Wir brauchen einen wie Wallraff.

Wo sind Reporter, die hingehen, beobachten, alles in sich reinziehen

und es dann Punkt für Punkt zu Papier bringen? Die

Erlebnismitteilungen schreiben. Und nicht Feuilletonisten, die

theoretisch über irgendetwas schwafeln. Manches von dem, was er

beschreibt, habe ich durchaus für möglich gehalten - auch in Kenntnis

der Dinge, wie Bild zu bestimmten Zeiten, nämlich den Wallraff-Zeiten,

gemacht worden ist. Nach dem Motto: Auflage, Auflage, Auflage. Auflage

ist alles. Die Wahrheit ist: Auflage ist für einen wirklich guten

Chefredakteur nicht alles. Ich will hier jetzt keine

Verantwortungsdebatte führen, und es gibt selbstredend einen enormen

Druck. Der Erfolg eines Blattes wie Bild misst sich natürlich vor

allem an der Auflage am Kiosk. Andererseits: Dass man nun Reporter

oder Redakteure in den Zustand bringt, dass sie nach Pawlow'schen

Reflexen wirklich alles machen, um zum Auflagenerfolg beizutragen, das

war nie mein Ding. Dass so etwas allerdings unter einer ganz

bestimmten gewissen Vorgänger-Administration passiert ist, ist mir

völlig klar in Kenntnis der handelnden Personen.

Wallraff: Bei mir war es Günter Prinz, der damals als Chefredakteur

von Bild die politischen Vorgaben bestimmte und Schlagzeilen wie

Schlagstöcke zu handhaben wusste und später in den Konzern-Vorstand

aufstieg.

Tiedje: Ehre, wem Ehre gebührt.

Wallraff: Mein unmittelbarer Redaktionsleiter - ich nenne ihn im Buch

Thomas Schwindmann - war gar nicht einer der außergewöhnlichen

Scharfmacher, eher so mittlerer Durchschnitt in all seinen Aktionen.

Er hatte Pech gehabt, dass er erwischt wurde, dass ausgerechnet er

später diesen Einbruch zu verantworten hatte, den "Vampirfall". Einer

der ganz schlimmen Bild-Exzesse: Bei einem Jugendlichen, der wegen

Verstoß gegen das Drogengesetz vorübergehend inhaftiert worden war,

wurden zwei Ampullen Blut gefunden. Bild leckte Blut und stempelte

diesen Jungen, der unter Verdacht stand, gegen das Drogengesetz

verstoßen zu haben, in einer Serie zum "Vampir von Sachsenhausen", zum

blutrünstigen Monster. Zum Schluss wurde er sogar mit dem Massenmörder

Haarmann verglichen, der immerhin 22 Menschen durch Bisse in die Kehle

getötet hatte. Der Junge saß in Haft und konnte sich nicht wehren. Was

nachher übrig blieb, waren zwei Ampullen Eigenblut, die er sich zur

Bestimmung der Blutgruppe im Rahmen des Biologieunterrichts selbst

abgenommen hatte. Schwindmann jedenfalls ist dabei zu sehr ins Gerede

gekommen und wurde strafversetzt. Er musste dann das Frauenressort

übernehmen, das war bei Bild wohl so ziemlich das niederste Ressort.

Tiedje: Diese Dinge, die hier behauptet werden, haben sich in meiner

Zeit nicht abgespielt. Aber vermutlich stimmen manche der von Wallraff

beklagten damaligen Zustände, und ebenso wahrscheinlich stimmen viele

Vorwürfe auch nicht.

Wallraff: Herr Tiedje, es sind inzwischen gerichtsbeglaubigte Bücher!

Der Springer-Konzern hat alles versucht, Teile des Buchs verbieten und

zensieren zu lassen - bis in die Nebensätze hinein. An den Fakten

kommen Sie nicht vorbei.

Tiedje: Aber Sie sind nun wirklich kein Heiliger, Sie haben auch eine

Menge Prozesse verloren.

Wallraff: Nicht wegen falscher Behauptungen. Sondern wegen eines so

genannten Tatbestandes des Einschleichens hatte ein Hamburger Richter

etliche Passagen zensiert, der Bundesgerichtshof und das

Bundesverfassungsgericht haben diese Urteile wieder aufgehoben und

meine Arbeitsmethode als legitim anerkannt. Im Urteil des BGH stand

wörtlich, da es sich bei der Bild-Zeitung um eine Fehlentwicklung des

deutschen Pressewesens handele, müsse meine Methode des Täuschens

dennoch legitim sein und das wirtschaftliche Interesse des Konzerns

hinter dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit zurücktreten.

Tiedje: Auch Verfassungsrichter unterliegen Vorurteilen.

Herr Wallraff, ist die Aussage von Herrn Tiedje, in seiner Mannschaft

habe ein Wallraff gefehlt, ein echtes oder eher ein zweifelhaftes

Kompliment?

Wallraff: Es ist ein Stich ins Herz. Aber im Ernst: Da ist doch ein

gewaltiger Unterschied in den Methoden, die ich anwende und jenen, die

Bild immer wieder angewendet hat. Da gibt es welche, die als

Krankenpfleger verkleidet mit einem Blumenstrauß bewaffnet den Leuten

ins Haus fallen, in die Privatsphäre eindringen und das bei Leuten,

die sich nicht wehren können. Da gab es einen Chefreporter, heute noch

in verantwortlicher Position im Springer-Konzern, der vor versammelter

Mannschaft die kriminellen Methoden von Bild rechtfertigte mit den

Worten: "Jeder gute Bild-Reporter hat schon mal eingebrochen. Ich habe

auch schon eingebrochen." Da gibt es die verbrecherischen Methoden der

Bildbeschaffung. Da die Losung ist, ohne Fotos keine Geschichte,

fallen Bild-Reporter Angehörigen von Unfall- oder Mordopfern mit den

Worten ins Haus: "Wenn Sie uns keine Fotos Ihres verstorbenen Kindes

herausrücken, veröffentlichen wir welche aus dem Leichenschauhaus. Sie

haben die freie Wahl." Das sind Menschen, die nicht die Macht haben,

juristisch dagegen vorzugehen. Das sind die Methoden der Bild-Zeitung.

Ich lege meine Methoden offen auf den Tisch, stelle sie nachher zur

Diskussion und halte sie auch nur dann für gerechtfertigt, wenn ich

sie aus der Position des Schwächeren absolut Mächtigeren gegenüber

anwende und ihre Privatsphäre - übrigens auch die von Herrn Springer

oder Herrn Gerling - waren für mich absolutes Tabu. Ich habe den

Eindruck, Herr Tiedje, Sie verklären das oder haben Vieles verdrängt.

Oder Sie waren zu kurz bei Bild? Sie waren von allen Chefredakteuren

am kürzesten bei Bild.

Tiedje: Da liegen Sie wieder falsch. Ich war gut drei Jahre

Chefredakteur und davor zwei Jahre stellvertretender Chefredakteur.

Also insgesamt war ich fünf Jahre da. Und ich will einmal etwas

klarstellen: Ich finde Ihre Sprache und Ihre Behauptungen maßlos. Und

noch was: Wenn ich damals gesagt habe, wir brauchen jemanden wie

Wallraff, dann ist das investigative Moment, der innehaltende

Reporterjournalismus gemeint und nicht der Reporter, der mit einem

Blumenstrauß verkleidet irgendwo hingeht. Und noch etwas: Sie,

Wallraff, sind überhaupt erst in der Auseinandersetzung mit Bild zu

einer Marke geworden.

Wallraff: Vielleicht für Sie! Herr Tiedje, jetzt mal unter uns. Sie

geben ja wohl zu, dass ein Konzern wie Gerling, der zu den Säulen

unseres Systems gehört, in der Ägide von Axel Springer kein Thema für

die Bild-Zeitung hätte sein dürfen. Das wäre mit einem Anruf erledigt

worden. Man darf nicht vergessen, dass es in Köln Buchhandlungen gab,

in denen mein Buch nicht verkauft werden durfte. Es gab Grossisten,

die ihre Kioske anwiesen, dass sie dieses Buch nicht verkaufen

dürften. Wo gibt es auch nur ein Beispiel bei Bild, wo die heiligen

Kühe unserer Wirtschaft so grundsätzlich angegangen wurden und auch

entblödet wurden, wie ich es mir immer wieder erlaubt habe?

Tiedje: Bild hat zu keiner Zeit Angst vor mächtigen Unternehmen

gehabt. Ich auch nicht. Wer recherchiert, stellt das an Beispielen

leicht fest.

Wallraff: Es gibt sie nicht. Sie leiden wohl an Amnesie!

Tiedje: Keineswegs, aber jetzt mal grundsätzlich: Die Bild-Zeitung ist

geschäftlich ein sehr erfolgreiches Unternehmen. Heute noch viel

erfolgreicher als zu meiner Zeit. Damals haben wir mit Bild einen

Umsatz von vielleicht einer Milliarde Mark gemacht und einen Gewinn

von vielleicht 150 Millionen Mark. Heute ist der Umsatz, vermute ich

mal, 1,2 bis 1,3 Milliarden Mark, und durch das gewachsene

Anzeigenaufkommen der Regionalausgaben dürfte der Gewinn bei 200

Millionen Mark liegen. Doch um dieses Blatt zu verkaufen, braucht man

Schlagzeilen. Und so ist es nun einmal bei Bild: Als Chefredakteur

guckst du regelmäßig in die Runde und gelegentlich siehst du die toten

Augen von Hamburg. Du brauchst eine echte Schlagzeile, damit du das

Blatt verkaufst, das ist so bei einer Volkszeitung. Das mag vielleicht

bei Blättern wie der Frankfurter Rundschau weniger geläufig sein -

aber die Bild-Zeitung muss sich jeden Tag am Kiosk verkaufen. Um das

klar zu machen: Wenn wir den Mediensozialismus hätten, dann könnten

wir jedem einen dpa-Ticker in die Wohnung stellen und alle lesen das

Gleiche und wissen das Gleiche. Aber wir haben eine Mediendemokratie.

Da kaufen die einen die FR, die anderen die Welt oder die Süddeutsche.

Und nun kommt die Bild-Zeitung als bundesweites Massenblatt daher und

muss sich jeden Tag verkaufen. Also braucht sie ausgereizte

Schlagzeilen. So! Und diese ausgereizten Schlagzeilen sind Stärke und

Problem zugleich. Wenn sie gut sind, dann ziehen sie die Leser an,

dann machen sie Auflage. Und wenn sie schlecht sind, dann bleibt das

Blatt liegen.

Wallraff: Wie viel Bild-Leser lesen keine andere Zeitung zur

Korrektur? Das sind doch etwa 80 Prozent?

Tiedje: Falsch geraten. Weniger als 50 Prozent. Bei der Hälfte ist

Bild ein Zweit-Medium. Und übrigens, jeder Bild-Leser schaut

Fernsehen.

Wallraff: Als Print-Medium ist Bild immer noch beherrschend.

Herr Wallraff, hat sich die Rolle und die Position der Bild-Zeitung in

der gewandelten Medienlandschaft geändert? Wie ist das mit der von

Herrn Tiedje ins Feld geführten Mediendemokratie?

Wallraff: Bei den seriösen Zeitungen kann man schon größere

Sensibilität und Aufklärungsbereitschaft feststellen. Das gilt für die

Blätter, die keine beherrschende Stellung haben. Insgesamt aber sehe

ich eine schlimme Tendenz zur Boulevardisierung. Allein die Tatsache,

dass Bild heute zitierfähig ist. Allein die Tatsache, dass dieses

Blatt noch immer Politiker mitformt und selbst Politik macht. Ob der

Bundeskanzler seine "Faulheitsdebatte" über Bild in den Mund gelegt

bekam oder - ganz populistisch - von den eigentlichen Problemen

ablenken wollte, das weiß ich nicht. Dennoch: das Blatt hat nach wie

vor großen Einfluss, eine unheimliche Macht. Springer sprach immer von

seinem Kettenhund. Das heißt, er konnte ihn auch bei Fuß, vielleicht

mit Maulkorb daliegen haben. Viele wussten, wenn er ihn loslässt, dann

zerfleischt sie dieser Kettenhund auch. Das erlebt man heute noch.

Siehe Sebnitz. Bild eröffnet das Spektakel und beschuldigt eine ganze

Stadt im Osten Deutschlands, einen Kindermord als Mitwisser zu decken.

Ein Vorurteil wird bedient. Es wird unmäßig übersteigert. Aber dass

sich die seriöse Presse auf Bild beruft, ist für mich das noch

Bedenklichere. Einer Mutter im Schmerz um ihr totes Kind kann man

einiges nachsehen, der Presse nicht. Oder denken Sie an die Trittin-

Kampagne, die diesmal noch nicht gezündet hat, aber den Politiker fast

zur Strecke gebracht hätte, wenn das Originalfoto nicht aufgetaucht

wäre. Das zeigt doch, dass Bild wieder in seine alten Strukturen

zurückfällt, wenn es darum geht, eine Regierung nicht nur zu

schädigen, sondern gezielt einzelne rauszuschießen. Ich habe den

Eindruck, dass durch den Wechsel an der Spitze des Blattes Leo Kirch

seinen Einfluss geltend macht. Mit alten, plumpen Fälschungen wird so

etwas bewerkstelligt. Da wird aus einem Stück Stahlseil ein

Schlagstock und aus einem Kranteil ein Bolzenschneider gemacht und

damit Trittin zum Gewalttäter. Doch dieses Mal ist es nicht gelungen.

Weil es mittlerweile eine wachsamere, kritischere Gegenöffentlichkeit

gibt, die es zu meiner Zeit in der Form nicht gab. So eine Art

Bewährungshelfer für Bild. Bild ist nach wie vor ein Blatt, das die

meisten Rügen vom Presserat einsteckt. Aber das beeindruckt die

anscheinend nicht.

Tiedje: Hier muss ich umfassend widersprechen. Selbst die Mutter eines

toten Kindes darf nicht alles, vor allem nicht lügen. Richtig ist, bei

Sebnitz, bei diesen Schilderungen der Mutter, sind fast alle

reingefallen. Aber was wäre umgekehrt gewesen? Hätte Bild dieses Thema

nicht groß gemacht, aber es hätte sich herausgestellt, dass die

Geschichte stimmt, dann wären genau Sie, Wallraff, aufgetreten und

hätten angeklagt: Siehste, weil es Rechtsradikale waren, die den

Jungen umgebracht haben, versteckt Bild die Geschichte. Die haben

heimliche Sympathien. So... oder so ähnlich. Nun wurde aber genau die

falsche Geschichte riesengroß präsentiert, und jetzt kommt Wallraff

und setzt sich zur Frankfurter Rundschau an den Tisch und sagt: ja,

typisch, Kampagne. Die Wahrheit ist: Alle die Blätter und Sender, die

darüber berichtet haben, hätten die Möglichkeit gehabt, diesen Vorgang

umfassend genug zu recherchieren. Sebnitz, Herr Wallraff, ist für Sie

wieder eine gute Gelegenheit zu sagen, ja, Tiedje, da hast du Recht.

Sebnitz ist keine Bild-Schandtat, sondern ist ein Fehler, der

passieren kann. Übrigens: Bild hilft heute Sebnitz. Das ist mir von

anderen nicht bekannt. Und was den Presserat anbelangt: Den halte ich

in der Tat für ein zu vernachlässigendes Gremium.

Warum ist dieses Gremium der Selbstregulierung aus Ihrer Sicht ein

zahnloser Tiger?

Tiedje: Ich weiß nicht, ob er ein zahnloser Tiger ist. Ich weiß nicht,

wie er draußen ankommt. Ich habe jedenfalls mich nie mit jemanden

darüber unterhalten, wie das ist, wenn der Presserat einen rügt. Ich

kann oft seine Entscheidungen nicht nachvollziehen, das können auch

andere nicht. Gruner + Jahr hat lange keine Rügen des Presserates

abgedruckt - warum wohl? Und noch ein Wort dazu, Bild sei angeblich

der Kettenhund von Axel Springer gewesen. Wir alle haben ja damals

auch das Gespräch gelesen zwischen Springer und Ben Witter: Da sagte

Springer, er leide manchmal wie ein Hund.

Wallraff: ... wenn er morgens die Bild-Zeitung lese. Dieses freimütige

Bekenntnis erfolgte allerdings erst unter enormem Druck der

Öffentlichkeit, nachdem ich Bild als "professionelle

Fälscherwerkstatt" und als das "Zentralorgan des Rufmordes" kenntlich

gemacht hatte.

Tiedje: Ich weiß, was er damit gemeint hat. In jener Zeit, in der die

Auseinandersetzungen zwischen Ihnen und dem Haus Springer liefen, ging

die Bild-Zeitung öfter und definitiv deutlich über die Grenzen des

Zulässigen hinaus. Frauen der RAF wurden grundsätzlich als Terror-

Mädchen bezeichnet. Die ganze Sprache damals. Man darf aber nicht

vergessen: Der Terrorist Andreas Baader hatte dem Springer-Verlag eine

Bombe ins Haus geschmissen und mehreren Leuten waren die Beine

abgerissen worden. Die Redaktion hatte eine regelrechte Psychose.

Damals wurden die Namensschilder der Redakteure an den Türen

weggenommen, nicht, weil gerade Wallraff unterwegs, sondern weil die

RAF zugange war.

Wallraff: Aber Tiedje, jetzt lenken Sie aber ab und verschweigen die

so genannte Sympathisantenhetze der Springer-Presse, die Böll, Grass

und auch mich für die Terroraktionen der RAF mit verantwortlich

machte.

Tiedje: Nein, überhaupt nicht. Nein! Die so genannte

Sympathisantenhetze ist ein Kampfbegriff aus jenen Tagen. Tempi

passati. Heute ist die Bild-Zeitung Tag für Tag für ein mediales

Gesamtkunstwerk, eine perfekt gemachte Zeitung, die Volkszeitung, eben

das deutsche Massenblatt.

Wie beurteilen Sie das Trittin-Foto, das die Bild-Zeitung stark

manipuliert druckte - offensichtlich um den Grünen-Politiker zu

diskreditieren. Ist das auch so ein Fehler, der einfach passieren

kann?

Tiedje: Es ist einfach passiert, aber meinen Sie wirklich, da sei der

Chefredakteur Diekmann in die Redaktion marschiert und hätte gesagt

"Leute, passt auf, wir machen aus einem Drahtseil einen

Bolzenschneider"? Das glauben auch Sie keine Sekunde. Warum sollte er

die Order zur Manipulation eines Fotos geben, das einen Tag vorher im

Original in Focus erschienen ist und damit in einer Auflage von 800

000 zu sehen war und in der richtigen Fassung am Tag vorher auch noch

im Fernsehen?

Wallraff: Nun weiß man ja von Diekmann, dass der nicht nur Kohls

Hofbiograf ist, sondern auch engster Vertrauter und Protegé von Leo

Kirch. Da passt doch wohl Einiges.

Tiedje: Kann es sein, dass Sie unter einer Kohl-Phobie und einem

Kirch-Syndrom leiden?

Man sprach Anfang des Jahres von einer Kampagne der Springer-Blätter

Bild und Welt gegen die rot-grüne Bundesregierung. Herr Tiedje, was

ist eigentlich eine Kampagne?

Tiedje: Kampagnefähig ist ein Thema, das die Leute im tiefsten

Innersten anrührt und bewegt und das man über einen langen Zeitraum

zieht. Boulevard, geschickt gemacht, wird immer auch an solchen

Aufbereitungen gemessen. Eine Kampagne dauert nicht nur drei Tage. Der

Benzinpreis zum Beispiel, die Ökosteuer, das wären klassische Themen

für eine Kampagne gewesen. Ich habe mich gewundert, dass das nicht

gemacht wird. Zwei oder drei Tage Ökosteuer - das ist keine Kampagne.

Aber es laufen keine Kampagnen zur Zeit. Der Chefredakteur Kai

Diekmann hat mehrfach geäußert, er wolle das nicht - auch nicht gegen

Rot-Grün. Insgesamt lässt sich sagen: Die Gangart des Boulevard ist

heute viel zivilisierter als vor zwanzig Jahren.

Wallraff: Natürlich war das eine Kampagne, an der auch andere

Springer-Blätter beteiligt waren, das hing, so sagen Insider, mit

Kirchs politischer Einflussnahme zusammen.

Was ist Boulevard total? Die öffentliche Hinrichtung von Politikern?

Tiedje: Dass man bestimmte Geschmacksgrenzen überschreitet, die ich

jetzt gar nicht definieren will. Aber Bild ist nicht Boulevard total.

Wallraff: Aber es wird Stimmung gemacht: Weil Nachricht und Kommentar

vermengt werden, weil es auf die Spitze getrieben wird, und weil es

dann noch in Form einer Agitation erfolgt. Das ist der Unterschied.

Bild differenziert nicht. Bild hat über Jahrzehnte diesen Stil geprägt

und ist auch unmäßig damit umgegangen und hat das Ganze noch

überdreht. Wenn man Bild vergleicht mit anderen, etwas gemäßigteren

Boulevard-Zeitungen, kann man einen Vergleich aus der Drogentherapie

nehmen: Bild ist Heroin pur und andere Boulevard-Zeitungen wie die

Münchner Abendzeitung oder die Hamburger Morgenpost sind das Methadon-

Programm. Und Bild hinterlässt Spuren, manchmal sogar tödliche Spuren.

Menschen haben sich nach Berichten in der Bild-Zeitung umgebracht. Sie

haben Bild in ihren Abschiedsbriefen für ihren Tod verantwortlich

gemacht. Im wortwörtlichen Sinne wurde Rufmord betrieben.

Tiedje: Herr Wallraff, Sie sind fest verwurzelt in der ferneren

Vergangenheit. Reden Sie darüber mal mit dem Bild-Kommentator Oskar

Lafontaine.

Ist das aus Ihrer Sicht, Herr Wallraff, heute immer noch so?

Wallraff: Das weiß der alles, denn er hat im Gegensatz zu Ihnen meine

Bücher gelesen und seinerzeit sogar einen Boykott-Aufruf mit

unterschrieben. Und es gab Rückfälle. Den Schauspieler Raimund

Harmstorf hat Bild auf dem Gewissen. Allerdings, dieses Ausmaß an

Verhetzung findet heute so nicht mehr statt. Das liegt sicher mit

daran, dass Gerichte härtere Urteile sprechen und die Öffentlichkeit

das Ganze kritischer sieht. Aber es gibt inzwischen andere Blätter,

die diese politische Hardliner-Rolle teilweise übernommen haben -

manchmal im Verbund mit der Springer-Presse. Ich denke da vor allem an

Focus. Den Spruch "Fakten, Fakten, Fakten - immer an den Leser denken"

kann ich schon nicht mehr hören. Man sollte überlegen ihn umzuwidmen

in "Fälschen, fälschen, fälschen und immer an den Rufmord denken".

Herr Wallraff, Sie gehen an dieser Stelle mit der Bild-Zeitung

geradezu milde um. Wofür steht denn "Post von Wagner"? Das müsste doch

bei Ihnen als Kampagnen-Journalismus gelten?

Wallraff: Nun, das ist Stimmungsmache der ganz miesen Art. Da rülpst

und deliriert einer, als läge er unterm Stammtisch. Wer das liest und

wer anfällig dafür ist, bei dem entsteht eine Schlussfolgerung an der

Wahrheit vorbei. Das sind keine Kommentare, das ist Hetze, die bei

bestimmten Menschen den Ruf nach der Todesstrafe freisetzen kann; ich

denke hier speziell an einen wahrheitswidrigen Kommentar über die

Hochzeit des inhaftierten Mörders Zurwehme.

Tiedje: Was reden Sie da? Mein Freund Franz-Josef Wagner hat nie die

Todesstrafe befürwortet. Der ist, wie auch ich, ein leidenschaftlicher

Gegner der Todesstrafe. Mehr noch: F.-J. Wagner ist die

journalistische Berufungsinstanz. Er formuliert, was Millionen fühlen.

Und noch ein Wort zu Focus: Sie wollen offenbar von Helmut Markwort

verklagt werden.

Hat die Bedeutung der Bild-Zeitung nicht abgenommen? Das Blatt hat

doch kräftig Konkurrenz bekommen. vor allem durch das kommerzielle

Fernsehen.

Tiedje: Nein, im Gegenteil: Die Bedeutung der Bild-Zeitung ist in den

letzten Jahren gewachsen. Früher erreichten Fernsehsendungen ein

Publikum von mehr als 20 Millionen Menschen. Ganz harmlose Sendungen

wie die Schwarzwaldklinik, aber damit wird ja auch Politik gemacht.

Die Quoten sind dramatisch gesunken. Die höchste Quote heute hat

Gottschalk mit Wetten, dass...?, der hat 15, 16 Millionen Zuschauer.

Doch diese Show findet höchstens alle acht Wochen statt. Aber die

Bild-Zeitung erscheint jeden Tag mit einer Reichweite von zehn bis elf

Millionen Lesern. Von den 45 bis 50 Millionen Menschen, die Bild lesen

könnten, liest jeder vierte oder fünfte Erwachsene im Land Bild. Eine

solche Reichweite, wie sie die Bild-Zeitung jeden Tag hat, hat kein

Fernsehsender. Die Tagesschau sahen früher 20 Millionen Zuschauer,

heute sind es fünf bis sechs Millionen. die ZDF-Nachrichtensendung

heute hat vier Millionen, Im Klartext heißt das: Wenn ich in

Deutschland irgend etwas bekannt machen will, wenn ich eine Nachricht

habe, die an das ganze Land gerichtet ist, gibt es kein besseres

Medium als Bild. Früher gab es vergleichbare Medien, von der

Tagesschau bis ZDF-heute. Übrig geblieben ist Bild. Die Segmentierung

des Fernsehens hat im Grunde der Bild-Zeitung eine größere Bedeutung

verliehen.

 

Wallraff: Die Macht des Springer-Konzerns ist größer geworden. Das zeigt sich auch daran, dass andere, konkurrierende Blätter sich Zurückhaltung auferlegen oder hinter den Kulissen auf allerhöchster Ebene Stillhalteabkommen vereinbart werden.

 Es ist schon fatal, wenn sich der Verleger der Zeit beim Springer-Vorstand entschuldigt für ein korrektes, ganz sachliches, unbestechliches Fakten-Dossier, das nichts anderes tut als die Kampagne der Springer-Presse gegen grüne Politiker zu dokumentieren. Nur Zitate, keine Kommentierung.

Und was passierte? Es gab einen Entschuldigungsbrief von Herrn von Holtzbrinck an den Springer-Vorstandschef. Bisher ist nicht bekannt, dass er sich bei seinen Redakteuren dafür entschuldigt hat.

 

[ document info ]

Copyright © Frankfurter Rundschau 2001

http://www.fr-aktuell.de/fr/index.htm

 

    Zurück

akteuren dafür entschuldigt hat.

 

[ document info ]

Copyright © Frankfurter Rundschau 2001

http://www.fr-aktuell.de/fr/index.htm

 

    Zurück

>